Samstag, 8. September 2007

108 Minuten Urlaub


Heute gönnte ich mir 108 Minuten Urlaub. Das geht so: DVD einlegen, Kopfhörer aufsetzen, auf dem Sofa hinflegeln und Start auf der Fernebdienung drücken. Und schon bin ich in New York beim Benefizkonzert für das Crossroads Center in Antigua. Zusammen mit Eric Clapton und Bob Dylan. Und Steve Gatt. Und Sheryl Crow. Und Mary J. Blige. Und vielen anderen.

Wer auch 108 Minuten Urlaub will, sollte sich die unbedingt sehens- und hörenswerte DVD zulegen: Eric Clapton & Friends in Concert

P,S,; Da bei Auftritten von His Bobness Kameras tabu sind, habe ich einfach ein Foto von meinem Fernseher gemacht. Das darf man doch, oder?

habemus fragmentum continuum

So, nun also geht das Experiment mit dem Fragment weiter. Oder zu Ende. Das, was hier folgt, kann sowohl als drittes Drittel die Erzählung (hier Teil 1 / dort Teil 2) beenden als auch die Türe für das Weiterschreiben öffnen.
Der aufmerksame Leser der Kommentare zu den ersten Teilen wird bemerken, dass ich mich durchaus habe von dieser und jener Anmerkung inspirieren lassen. Das war (und ist, falls es weiter geht) ja der Sinn des öffentlichen Schreibens.

So genug vorgeredet, hier ist der vorgestern und gestern entstandene Text, als Brücke wieder die letzten paar Worte aus dem vorigen Teil:

...Sie folgt den Spiralen der Stufen und erreicht das zweite Obergeschoss, will umkehren, zurück auf die Veranda, den Blick hinaus richten. Die Augen ihn erforschen lassen. Vergangenheit zurückholen, Zukunft ermöglichen.

Der schwere Schlüssel öffnet ihre Türe und ein leichtes Beben unter ihren Füßen fordert Aufmerksamkeit.

...

Er blickt auf seine Fingernägel und sieht sie brüchig. Sind all seine Schiffe verbrannt? Was ist ihm geblieben? Ein fremdes Land, kalt findet er es, klimatisch und auch sonst. Nicht, dass die Menschen unfreundlich wären, doch wird er nie zu Hause sein in Deutschland, und kann auch in die Heimat nicht zurück. Er löst sich von dem Blick aufs Meer und blickt hinauf zum zweiten Stock, wo sie ihr Zimmer hat.

...

„Konstantinos“, murmelt sie, „Konstantinos Sourvanos. Wer bist du?“ Sie mustert sein Gesicht, vergrößert durch die Linsen. Das Fernglas hat sie einst, in jenem anderen Leben, in jener nebelhaften Vergangenheit, im Laden ihres Vaters mitgenommen. Angeblich sei es einst das Eigentum von Carl Zeiss gewesen, hatte er erklärt, ein Einzelstück, von Hand gefertigt, dann verpfändet und nie eingelöst. Es gab auch einen Pfandschein aus dem Jahr 1849, ein August Löber hatte säuberlich quittiert, im Auftrag und mit Vollmacht seines Meisters Carl Zeiss zu handeln. Ihr Vater hatte ihr, zu größter Behutsamkeit mahnend, das Unikat für ein Wochenende anvertraut, sie konnte es jedoch nicht wieder in seine Hände legen. Es war das einzige Erinnerungsstück, das ihr ans Elternhaus geblieben war.

Er schaut hinauf zu ihr. Kann er sie sehen, wie sie ihn betrachtet? Forscht er in den Schatten seiner Vergangenheit nach ihr wie sie nach ihm?

...

Er meint, eine Silhouette wahrzunehmen, doch sicher ist er nicht, die Sonne spiegelt sich und verwehrt den Blick auf seine namenlose Göttin. Er wendet sich dem Eingang zu und fragt sich, ob das Beben unter seinen Füßen wirklich da gewesen war. In einer anderen Region, auf einem anderen Kontinent wäre seine Aufmerksamkeit erwacht, doch hier muss niemand damit rechnen, dass Festgefügtes auseinander bricht. Er tritt in die Lobby und nickt dem alten Herrn zu, der an der Rezeption auf irgend etwas warten mag.

Er lässt den Fahrstuhl unbeachtet und steigt in Gedanken tief verloren die vom Teppich weichen Stufen empor. Im zweiten Stock passiert er ihre Zimmertür und horcht, doch ist kein Laut vernehmlich. Er möchte klopfen, doch kann er keinen Grund ersinnen, ein solches Verhalten zu erklären. So geht er weiter, schließt die letzte Tür im Gang auf und meint erneut, ein Beben zu empfinden. Er blickt zurück, den Flur hinunter. Ihm ist, als sei der Kronleuchter in Bewegung. Soll er zurück, das Haus verlassen? Soll er verweilen und beobachten? Droht ihm Gefahr, droht ihr Gefahr? Er könnte nun mit gutem Grunde klopfen, die Göttin fragen, ob die Erde bebt. Er steht vor seiner Zimmertür und hört Musik.

...

Sie spielt auf ihrer Klarinette, improvisiert, lässt Töne kommen, wie sie möchten und entlässt sie in die Atmosphäre, wo sie sind und schon vergehen. Dennoch sind sie nicht flüchtig, verweilen im Gedächtnis, länger oder kurz, vielleicht für immer. Sie spielt seit ihrer Kindheit, und oft kommt eine Melodie zum Vorschein, die sie beim Hören wiedererkennt.

...

Er lauscht und weiß, wer seine Göttin ist. Erkennt die Folge der verspielten Klänge, sieht sich zu ihren Füßen sitzen. Ein stiller See, zwei Menschen bergen sich im Schatten eines Baumes. Er liegt entspannt, vom Bad noch feucht, sie steht und schaut ins Unbestimmte, die Klarinette scheint zu leben. Auf ihrer Haut sind Wasserperlen, ihre Haare tropfen, sein Blick kann sich nicht lösen. Spielt sie für ihn? Für sich? Für niemanden? Für die ganze Welt? Er sieht sie nur von hinten, doch er weiß, dass sie den Blick auf ihre Schönheit spürt. Er legt sich hin, die Augen lassen keinen Augenblick von ihr. Die Melodie spricht mehr als tausend Worte. Sie flüstert Liebe, sie haucht Zärtlichkeit.

Sein Leben lang hat sie ihn begleitet, ein Wunder, ein Phantom der Jugendzeit. Vergessen und doch immer da. Warum hat es so lang gedauert, sich zu erinnern? Warum bringt die Musik zurück, was das Gesicht, was die Gestalt nur ahnen ließ? Er hebt die Hand, um an die Tür zu klopfen. Dann zögert er erneut. Wie kann man solches Spiel der Töne und des Atems unterbrechen?

...

Sie schließt die Augen und sie sieht ihn hingestreckt im Gras. Wie lange ist es her, dass er zu ihren Füßen lag? Vor wie viel Tausenden von Atemzügen spielte sie für ihn, was sie mit Worten nicht zu sagen wusste?

Sie spürt den Blick, und nichts daran ist ihr zuwider. Er darf betrachten, er darf träumen, er darf fühlen. Er ist der erste, dem sie sich zu schenken wünscht, und sie weiß auch, dass sie und er an diesem Tag die Welt besitzen. Sie lässt die Melodie versiegen, die Klarinette sinken. Sie dreht sich zu ihm um. Adam und Eva, ohne Schuld und Scham im Garten. Sein Körper ledig aller Kleidung so wie ihrer. Sein Herz gefangen so wie ihres vom Moment. Zwei Seelen, die in ungetrübter Wahrheit zu einander streben.

...

Er klopft, als die Musik verklungen ist. Sie öffnet ohne Zögern, er sieht die Tränen, die sie wegzuwischen nicht für nötig hält.

„Susanne, wo warst du so viele Jahre?“ Seine Stimme zittert.

Sie haucht mehr, als dass sie spricht: „An keinem Ort, der erwähnenswert sein könnte.“

„Du hast dich verändert.“

„Vermutlich.“

„Du warst fort.“

„War das nicht unvermeidbar?“

Er hört sich sagen: „Bleibst du bei mir?“

...

Sie hört sich sagen: „Wenn du es möchtest, ja.“