Freitag, 21. September 2007

Ein Narzisstenstrauß

Als ich diesen Blog startete, hatte die beste aller Ehefrauen gewisse Bedenken anzumelden. Ob das nicht ein wenig - oder gar mehr als ein wenig - narzisstisch sei, ein Blog an und für sich und die Tatsache, dass ich nun einen begönne, im Besonderen. Inzwischen habe ich recherchiert, gegrübelt, geforscht und bin zu zwiespältigen Ergebnissen gekommen.

Narzissmus ist eine Charaktereigenschaft, die sich durch ein geringes Selbstwertgefühl bei gleichzeitig übertriebener Einschätzung der eigenen Wichtigkeit und dem großen Wunsch nach Bewunderung auszeichnet.

So definiert Wikipedia den Begriff. Ist also die Gemeinschaft der Blogger ein Narzisstenstrauß und bin ich eine Blüte in selbigem? (Ich weiß übrigens, dass eine Narzisse mit dem Narzissten nichts gemein hat, aber das Wortspiel ist zu schön, um darauf zu verzichten.)

Schauen wir noch mal bei Wikipedia nach:

Manche Menschen haben in ihrer frühkindlichen Entwicklung weniger Liebe von Bezugspersonen als andere erhalten, sie leiden oft lebenslang darunter und geben ihre Reaktionen auf ihre Entbehrungen an andere weiter. Dies muss aber nicht zwangsläufig zu einer narzisstischen Erkrankung führen. Sie reagieren mit Verhaltensweisen, die von der Psychologie als narzisstische Charakterstörungen eingeordnet werden. Diese psychologische Deutung versteht den Narzissmus als ein Leiden, weil die Betroffenen Schwierigkeiten haben, Objektbeziehungen zu führen. Sie versuchen ihr Gegenüber zu kontrollieren und suchen nach ständiger Bestätigung ihrer Grandiosität, da sie sich ohne diese leer fühlen.

Aha. Suchen nach ständiger Bestätigung ihrer Grandiosität - durch die Leser des Blogs? Das scheint mir darauf hinzudeuten, dass es narzisstische Tendenzen bei uns Bloggern geben mag.

Es gibt allerdings anschließend auch Beruhigendes zu lesen:

Jeder Mensch durchläuft narzisstische Zustände.

Entwarnung also. Das Bloggen, wenn es denn narzisstisch sein sollte, ist temporär wie eine Erkältung, die früher oder später vorüber ist, Aspirin hin oder her.

Jedoch:

Nach Sigmund Freud unterscheidet man den primären und sekundären Narzissmus. Beim primären Narzissmus richtet das Kleinkind seine sexuelle Energie (Libido) ganz auf sich selbst. Beim sekundären Narzissmus wird die sexuelle Energie von äußeren Objekten wieder abgezogen und auf sich selbst bezogen (Regression). Dieser Zustand trete vor allem nach enttäuschter Liebe oder Selbstwertkränkungen auf.

Erich Fromm bezeichnet Narzissmus als Gegenpol zur Liebe und unterscheidet neben dem Narzissmus des Einzelnen auch den Gruppennarzissmus (siehe Patriotismus bzw. Fanatismus). Narzissten neigen laut Fromm dazu, einen Bezug zu ihrer Umwelt dadurch zu gewinnen, dass sie Macht über sie erlangen.

O weh! Wir Blogger sind eine Bedrohung für jede Demokratie, laut Freud, und unfähig zu einem gesunden Sexleben, laut Fromm.

Aber andererseits:

Heute bezeichnet der Begriff Narzissmus innerhalb der psychoanalytischen Theorie nicht nur eine krankhafte Bezogenheit auf sich selbst, sondern ist auch Ausdruck eines gesunden Selbstwertes. Vor allem die selbstpsychologische Schule (innerhalb der Psychoanalyse) von Heinz Kohut hat diesen Wechsel in der Bewertung des Narzissmus als bedeutendes Modell für die psychische Gesundheit eingeleitet.

Also sind wir Blogger nicht krank, sondern strotzen vor psychischer Gesundheit, sogar modellhaft. Fein. Oder wie jetzt?

Es scheint, als könne man trefflich streiten, schon über Begriff und Definition an und für sich. Ist ein Narzisstenstrauß nun eine erfreuliche Bereicherung oder ein Bündel von Blumen des Bösen? Wäre vielleicht ein Blick auf diverse Blogs aufschlussreich bei der Analyse?

Ein Blog ist ein digitales Journal, ein Tagebuch. Thomas Mann schrieb säuberlich mit Tinte auf Papier seine Tagebücher, die dann nach seinem Tod mühsam in eine druckbare Form gebracht werden mussten. Es blieb ihm ja gar nichts anderes übrig, da Bill Gates und andere erst viel später auf die Welt kamen. Aber dass Thomas Mann seine Tagebücher nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Nachwelt schrieb, ist kein Geheimnis. Ich vermute: Thomas Mann hätte heute einen Blog, den ich natürlich als RSS Feed abonnieren würde.

Ein Tagebuch muss nicht täglich geführt werden, klar. Es gibt Blogger, die ab und zu etwas notieren, andere schreiben täglich mehrmals, wieder andere fangen wild an und dann versiegt der Strom zu einem Rinnsal, das schließlich in staubigem Sand endet. Rest in peace, dear Blog. Und es gibt inhaltliche Unterschiede, die auf verschiedene Grade des Narzissmus schließen lassen. Wie schön, dass es solche Untersuchungen gibt:

Eine Studie des Singapore Internet Research Centre unter etwa 1200 englischsprachigen Bloggern (Koh et al. 2005, S. 2ff) teilte die Blogs in zwei Kategorien ein: 73 Prozent der Befragten führten ein so genanntes personal Blog, 27 Prozent ein non-personal Blog. Die Blogger der zweiten Gruppe schreiben vor allem, um „zu kommentieren“ und „Informationen zu liefern“. Ihr Ziel ist zudem, ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Auch soziodemographisch unterscheiden sich die beiden Gruppen: Non-personal-Blogger sind zum Großteil Männer, die eine höhere formale Bildung als Personal-Blogger haben. Außerdem haben sie im Schnitt mehr Leser, aktualisieren ihr Blog häufiger und verbringen mehr Zeit damit.

Ähnliche Ergebnisse erbrachte im Jahr 2005 eine Umfrage unter mehr als 4000 deutschsprachigen Bloggern. 71 Prozent der befragten Blogger gaben an, „zum Spaß“ zu schreiben; 62 Prozent wollen in ihrem Blog „eigene Ideen und Erlebnisse für sich selbst festhalten“. Demgegenüber bloggen 33 Prozent, weil sie ihr „Wissen in einem Themengebiet anderen zugänglich machen wollen“, und 13 Prozent „aus beruflichen Gründen“ (Schmidt 2006, S. 43).


Was Thomas Mann und den Blogger heute unterscheidet, ist natürlich auch die Möglichkeit der Leser, das Geschriebene zu kommentieren. Ich schätze die Kommentare meiner Blogbesucher sehr, fordere sie manchmal geradezu heraus. Das war Thomas Mann nicht möglich. Ob er es gewollt hätte, sei dahingestellt, aber er war, den Tagebüchern zufolge, begierig, jegliche Kritik zu seinen Werken zu lesen.

  • Es gibt Blogs, die eigentlich eine Litfaßsäule sind, weil der Blogger zwar Kommentare haben möchte, aber nie und nimmer darauf reagiert. Ein solcher Blog wird an abnehmenden Besucherzahlen und versiegender Beteiligung der Leser leiden. Ein anschauliches Beispiel dafür ist das (narzisstische? beruflich bedingte?) Experiment eines hiesigen Politikers: Pflügers Litfaßsäule.
  • Es gibt andere, die vom regen Austausch zwischen Leser und Autor profitieren, selbst wenn der Autor sich den Namen eines flugunfähigen Vogels zulegt wie der Storch.
  • Und dann gibt es Blogs, die eine bestimmte Zielgruppe ansprechen wollen, zum Beispiel die männliche Häfte der Bevölkerung: Männer auf dem Weg.
  • Wiederum andere dienen überwiegend der Familien- und Hobbychronik für Freunde und Verwandte: SamPix.

Die Vielfalt an Blogs, die zu finden sind, ließe noch eine lange Liste zu, doch soll das genügen. Den eigenen Blog hier aufzuführen wäre ja nar... - äh, na ja.

Also wie ist das jetzt, sind wir Blogger Narzissten? Ich stelle fest, dass mir eine Antwort nicht gelingt. Vielleicht kommt ja über die Kommentarfunktion Erleuchtung zustande?