Mittwoch, 4. Juni 2008

Berlin missional 1 - Stulle mit Aussichten

Von der Hauskirche bis zur Gemeinde mit mehreren Hundert Gottesdienstbesuchern erstreckt sich die Gemeindezugehörigkeit, vom pensionierten evangelischen Pfarrer bis zur Studentin die Altersspanne, vom Speditionskaufmann bis zum Oberarzt das berufliche Umfeld. Eine Gruppe von 12 sehr unterschiedlichen Teilnehmern trifft sich am 30. Mai 2008 in der Spandauer Josuagemeinde zum Abendessen und ersten Kennenlernen. Bei aller Verschiedenartigkeit eint uns das Interesse am Thema des Wochenendes, das wir gemeinsam erleben werden: »Berlin missional«.

Eine Konferenz? Nein. Ein Programm? Nein. Vor uns liegt ein Abenteuer, vor uns liegt die Möglichkeit, statt lediglich Vorträgen zuzuhören und an Diskussionen teilzunehmen, etwas zu erleben, sozusagen Reich Gottes in der Stadt zum Anfassen, zum Sehen, Fühlen, Schmecken. Und Reich Gottes, so kündigt es die Einladung zu diesem Wochenende an, heißt viel mehr als sonntägliches Treffen, um einer Predigt zuzuhören und gemeinsam zu singen. Was »missional« alles einschließen und bedeuten kann, wird dem Leser meines Berichtes am besten dadurch verständlich, dass er mir, Interesse natürlich vorausgesetzt, durch diese Zeilen folgt.

Wir beginnen mit Wurst- und Käsebroten (vom Berliner gerne als Stulle bezeichnet), Gemüsesticks samt Dipp und weiteren Köstlichkeiten auf liebevoll gedeckten Tischen. Unser »Fremdenführer durch das missionale Berlin«, Harald Sommerfeld, gibt nach einer kurzen Vorstellungsrunde einen ersten Überblick über das, was uns erwartet. »Das sind richtig spannende Aussichten«, merkt meine Tischnachbarin an, »was bin ich froh, dass ich mich angemeldet habe!«

Anschließend stellt sich der erste Gast, Raed Saleh, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (das entspricht dem Landtag in anderen Bundesländern), SPD-Kreisvorsitzender und Mitglied des Landesvorstandes der SPD, uns als gläubiger Moslem vor. Er ist ein Berliner. Er ist leidenschaftlicher Politiker, sein Motto lautet: »Politik ist für mich der Dialog mit den Menschen auf Augenhöhe; Betroffene müssen zu Beteiligten gemacht werden.«
Warum betritt ein solcher Mann (nicht zum ersten Mal) eine christliche Freikirche, warum trifft er sich mit uns an diesem Abend? Weil er, wie er sagt, »sehr gerne mit Christen zusammen arbeitet. Sie sind verlässlich, sie haben – und leben - Werte, die der Gesellschaft gut tun.« Schade findet er es, wenn Gemeinden, in denen diese Werte sicherlich vorhanden sind, sich abschotten, sich nicht für ihre Umgebung öffnen, nicht in der Gesellschaft »mitmischen«. Damit berauben sie die Menschen in ihrer Nachbarschaft, anstatt den Nachbarn das zu geben, was diese so dringend brauchen würden. »Diese Josuagemeinde hat sich hier im Bezirk einen Namen gemacht«, erklärt Raed Saleh, »und zwar durch Transparenz, Offenheit, Dialog und Annahme der sozialen Verantwortung. Diese Gemeinde sucht den Austausch, sie fragt: »Was können wir für die Menschen hier tun?«, anstatt zu fragen: »Wo bekommen wir Gelder her?«
Mit spürbarer Dankbarkeit berichtet uns Raed Saleh, dass durch eine Aktion, die die Josua-Gemeinde zusammen mit anderen Gruppen im Kiez und der Polizei nach einem Ausbruch von Gewalt unter Jugendlichen gestartet hat, »die Kriminalität um 20 Prozent gesunken ist.« Ein Modell, das andernorts mittlerweile aufgegriffen wurde.

Jörg Gerasch, Pastor der Josuagemeinde, erläutert anschließend, wie die Gemeinde für Politiker und gesellschaftlich relevante Gruppen zu »einer wichtigen Stimme im Bezirk« geworden ist. Alles fing damit an, dass Menschen aus der Gemeinde wahrnahmen, dass es ringsum reale Nöte und Bedürfnisse gab, bei deren Bewältigung man mithelfen konnte. Mit kleinen, aber konsequenten Schritten wie dem Engagement in der Stadtteilkonferenz, Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche und dem uneigennützigen zur Verfügung stellen von gemeindlichen Räumen wurde nach und nach Vertrauen bei Behören, Ämtern und Diensten bis hin zur Polizei erworben.
Rund sieben Jahre dauert dieser Weg bisher, und er zeigt inzwischen mehr und mehr handfeste Resultate. Die Anfänge waren recht simple Schritte: Die Frage an Vereine, Gruppen, Organisationen in der Gegend: »Was können wir für diesen Bezirk tun, wo können wir helfen?«
Die meisten christlichen Gemeinden und Kirchen haben gesellschaftlich relevante Angebote, aber die Bevölkerung ringsum erfährt nie etwas davon, weil Misstrauen und Vorurteile statt Offenheit und Transparenz vorliegen. Der Weg in die Relevanz kann nur aus vielen kleinen Schritten bestehen und es wird eine Weile dauern, bis eine Kirche oder Gemeinde von der Öffentlichkeit so wahrgenommen wird, dass man sie bei wichtigen Entscheidungen unbedingt hören will, aber der Weg lohnt sich, denn so kommt das Reich Gottes sichtbar und spürbar zu den Nachbarn.

Für viele Menschen ist Fußball die schönste Nebensache der Welt. Burkhard, Vorstandsmitglied des Hertha BSC-Fanclubs »Totale Offensive – gegen den Strom« berichtet darüber, wie dieser christliche Fanclub entstanden ist und wie viel Gehör und Aufmerksamkeit er mittlerweile bei Spielern, Management und Fans der Berliner Fußballmannschaft findet. Natürlich steht der christliche Fanclub auch einträchtig mit Clubs wie »Dick und Durstig« oder »Böhse Bären« im Verzeichnis auf der offiziellen Hertha-Webseite.
Aktionen, bei denen Fußbälle für die Kinder in der Dritten Welt gespendet wurden, Gottesdienste im VIP-Bereich des Olympiastadions und viele ganz persönliche Begegnungen mit Fans und Aktiven zeigen: Auch im Sport gibt es Möglichkeiten für Christen, etwas zu bewirken, wenn sie es nur wollen und versuchen. Inzwischen räumt Hertha BSC dem christlichen Fanclub gerne Platz in der Vereinszeitschrift ein, selbst Dieter Hoeneß, der »Chef von’s Janze«, zeigt sich erfreut über die Christen.

In Zeiten rigoroser Sparmaßnahmen kann der Staat und können andere Träger vieles nicht mehr leisten, was lange selbstverständlich schien. In der größten Haftanstalt Deutschlands, der JVA Berlin-Tegel, gab es bis vor einigen Jahren etliche hauptamtliche Seelsorger – heute ist nur noch ein einziger übrig. Eine Lücke wurde dadurch gerissen. Diese zu schließen und das ehrenamtlich zu übernehmen, was früher bezahlte Seelsorger taten, war ein paar Christen wichtig genug, um dafür ihre Freizeit zu opfern..
Wie es dazu kam, dass in einer anderen Justizvollzugsanstalt nun bereits der zweite »Alpha-Kurs« hinter Gittern stattfindet und wie viel Offenheit bei den Strafgefangenen für Christen besteht, wenn sie denn kommen, berichtet uns Gregor.
Die Gespräche mit den Insassen der Haftanstalt offenbaren, wie viel Ahnungslosigkeit über Gott und die Bibel herrscht. In einer Diskussion über die in der Bibel aufgeschriebenen Wunder, so erzählt Gregor, hielten Häftlinge das für völlig unglaubwürdig. Die Frage, warum denn dann in der Bibel darüber zu lesen sei, beantworteten die Männer im Knast mit ihrer eigenen Logik: »Weil in dieser Gegend so viele Drogen konsumiert wurden.« Man kann sich vorstellen, wie sehr ein Alpha-Kurs in solcher Umgebung den Blick der Menschen für Gottes Realität öffnen kann.

Als wir die Gemeinderäume verlassen, schmückt sich der nächtliche Himmel mit einem farbenfrohen Feuerwerk, das von der knapp 3 Kilometer entfernten Freilichtbühne an der Spandauer Zitadelle stammt. Dort spielt Jethro Tull, und das nicht gerade leise, der leichte Wind trägt die die Musik herüber. Mein Samstag und mit ihm der Auftakt zu »Berlin missional« klingt im Café Lenny unweit der Josua-Gemeinde aus, und auch das ist symptomatisch für das, was dieses Wochenende bereit hält: Der Inhaber des Cafés ist ein Bruder von Raed Saleh. Das köstliche Bier bringt uns die Tochter des Pastors Jörg Gerasch, die dort als Serviererin einen Job gefunden hat.
Ich fahre voller wertvoller Impulse und Fragestellungen nach Hause und freue mich auf den Samstag, an dem das Abenteuer fortgesetzt wird. Die Aussichten auf das morgige Programm sind spannend: Von einer wohlhabenden Gegend in Charlottenburg bis zu einem der ärmsten Kieze Berlins.

Fortsetzung folgt.