Sonntag, 12. Oktober 2008

Günter Grass: Die Box

Es gilt, einen Roman zu beschreiben, der kein Roman zu sein vorgibt, sondern versucht, als Gesprächsprotokollsammlung mit nur sparsamen Kommentaren zum Rahmen der aufgeschriebenen Unterhaltungen den Leser naszuführen. Der Leser möge doch das Ganze für authentisch halten, biographisch, der Wahrheit nahe und verlässlich.
Das ist natürlich Unfug. Und das hat der Autor auch gar nicht im Sinn gehabt, meinem Empfinden nach. Zu viel Zauberhaftes aus der Box mischt sich in die Gespräche, die hier angeblich aufgeschrieben sind. Zu oft beschweren sich die Sprechenden über den Autor, der ihnen Dinge in den Mund legt, die sie nicht wissen und wollen. 
Und doch gelang es Günter Grass, mich bei Lesen immer wieder soweit zu verführen, dass ich mir beispielsweise sagte: Ach so war das damals, als er die Rättin schrieb... 

Nein, so war es natürlich nicht. »Die Box« ist ein Werk der erzählenden Literatur, keine Biographie. Dass der Dichter darin seine zahlreichen Kinder vorwiegend über ihn, den »Vatti«, plaudern, streiten und mutmaßen lässt, ist ein ganz und gar gelungener Kunstgriff, den mit solcher Konsequenz meines Wissens noch kein Schriftsteller angewendet hat. Die Box, die dem Buch den Titel gibt, von der »alten Marie« bedient und in der Lage, das Vergangene und Zukünftige zu fotographieren, spielt die Rolle, die in der Literatur oft der Erzähler selbst einnimmt: Dem Leser Dinge preisgeben, von denen Figuren in der Erzählung nicht wissen können oder dürfen.

Das neue Werk ist mir beim Lesen, wie häufig bei Günter Grass, auch ein Buch über mich geworden. Ich erkenne mich wieder, finde mich beschrieben, zum Beispiel in solchen Sätzen: »Euer Vater ist immer gern woanders und weranders.« In Szenen, in denen er - zwar körperlich anwesend - nur ein paar Türen weiter an seinem Stehpult Worte auf das Papier fließen lässt oder zwingt, aber doch ganz weit weg von Familie, Alltag und Realität ist. 

Sprachlich leistet sich Günter Grass so manches, was mich auf die Palme zu bringen vermag. Unvollständige Sätze noch und noch, Formulierungsfragmente, Bruchstücke. Das ist der Situation geschuldet, zweifellos, soll die durcheinanderredenden Kinder des Dichters hörbar werden lassen. Gestört, zumindest in dieser Häufung, hat es mich doch, genau wie es mich im Alltag irritiert, wenn jemand fragt: »Kann ich mal die Buttter?« 
Immerhin, Günter Grass setzt drei Pünktchen hinter solche Satzscherben...

»Die Box« ist sicher kein alle anderen Werke überragender Roman, aber Günter Grass ist gelungen, was für mich die Lektüre eines Buches lohnend macht: Ich habe mich keinen Augenblick gelangweilt, nie mit dem Gedanken gespielt, ein paar Seiten zu überblättern. Er hat mich gelegentlich geärgert mit diesem Buch, auch hier wie dort amüsiert, aber er hat mich ohne Langeweile durch die rund 200 Seiten geführt. Sobald sich ein paar freie Minuten ergaben, griff ich zu diesem Buch und ließ dafür ein anderes, vorher angefangenes, gerne liegen. 

Mein Fazit: Eine unterhaltsame Lektüre, die gelegentliche Einblicke in zurückgelegtes Zeitgeschehen erlaubt und durch die regelmäßige Hereinnahme von Tatsachen in die Handlung dazu verführt, dem Autor fast zu glauben, was er da fabuliert. Und warum sonst sollte man Romane überhaupt lesen?

Günter Grass: Die Box
18 Euro
Gebundene Ausgabe: 215 Seiten
Verlag: Steidl
ISBN-10: 3865217710
ISBN-13: 978-3865217714
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