Dienstag, 18. November 2008

Franz Kafka: Amerika

Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
So beginnt ein Roman, der kein Ende hat. Die Erzählung bricht ab, unvermittelt, weil der Autor nicht dazu gekommen ist, einen Schluss zu verfassen. Er hat das Fragment unvollendet beiseite gelegt. Der Leser wird am Ende des Buches mitten auf der Strecke allein gelassen. Die letzten Sätze:
Am ersten Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge. Bläulich-schwarze Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich aus dem Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunkle, schmale, zerrissene Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sich verloren, breite Bergströme kamen, als große Wellen auf dem hügeligen Untergrund eilend und in sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter die Brücken, über die der Zug fuhr, und sie waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte.
Und dann? Und nun? Wohin geht die Reise? Was wartet am Zielbahnhof auf uns? Kommen wir wirklich im Theater in Oklahoma an? Wir werden es von Franz Kafka nicht erfahren, es bleibt uns allerdings unbenommen, mittels unserer Phantasie diese Geschichte fortzusetzen.

Zwischen diesem Anfang und diesem offenen Ende entfaltet sich ein in vielfacher Weise zeitloser Roman, den ich mit großem Vergnügen gelesen habe. Es ist, so meint der Leser zunächst, der amerikanische Traum, der hier geträumt wird. Der Weg aus dem engen, dunklen, bedrängenden Europa in die Weite, Freiheit, Helligkeit Amerikas, in das Land, in dem man vom Tellerwäscher zum Millionär werden könnte. Auch unserem Helden Karl scheint sich diese Möglichkeit zu eröffnen, auch und erst recht, nachdem er beim ersten Anlauf in New York gescheitert ist. Denn er bekommt eine Anstellung im Hotel:
Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen. »Dann sind Sie also frei?« fragte sie.
»Ja, frei bin ich«, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser.
»Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?« fragte die Oberköchin.
»Sehr gern«, sagte Karl, »ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann zum Beispiel nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben.«
»Das ist nicht das Wichtigste«, sagte die Oberköchin. »Sie bekämen eben vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müßten dann zusehen, durch Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinaufzubringen. Jedenfalls aber glaube ich, daß es für Sie besser und passender wäre, sich irgendwo festzusetzen, statt so durch die Welt zu bummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht gemacht.«
›Das würde alles auch der Onkel unterschreiben‹, sagte sich Karl und nickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, daß er, um den man so besorgt war, sich noch gar nicht vorgestellt hatte. »Entschuldigen Sie, bitte«, sagte er »daß ich mich noch gar nicht vor gestellt habe, ich heiße Karl Roßmann.«
»Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Karl, »ich bin noch nicht lange in Amerika.«
»Woher sind Sie denn?«
»Aus Prag in Böhmen«, sagte Karl.
»Sehen Sie einmal an«, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, »dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur einmal!«

Jedoch wäre Kafka nicht Kafka, wenn Karl gelänge, was nun zu erwarten wäre. Im Gegenteil: Wir werden Zeugen seines kontinuierlichen Abstieges. Karl kommt mit dieser neuen Welt, in die er geschickt wurde, nicht zurecht. Er wird erniedrigt, missbraucht, misshandelt. Ihm widerfährt eine kafkaeske Situation nach der anderen, und das ist - rein literarisch gesehen natürlich - auch gut so. Wäre Karl eine reale Person, müsste man zutiefst Mitleid mit ihm empfinden.

Es ist die unvergleichliche Sprache Kafkas, die dieses Romanfragment so lesenswert macht. Wer ein Gespür dafür hat, wird dies aus den obigen Zitaten unschwer erkennen. Reizvoll an der Handlung ist natürlich das Absurde, das immer wieder unvermittelt so ganz normal daherkommt. Menschen verhalten sich selten so, wie man es erwarten würde, Umstände gestalten sich surreal, Gespräche nehmen aberwitzige Wendungen...
Ich schrieb neulich bei der Rezension eines anderen Buches, dass es mir beim Lesen nicht so sehr auf den Schluss, sondern auf den Weg an und für sich ankommt, auf den ein Autor mich mitnimmt. Bei Franz Kafka gestaltet sich dieser Weg - auch ohne Schluss im eigentlichen Sinne - abwechslungsreich, bunt geschmückt mit Irrungen und Wirrungen, Überraschungen und Zwangsläufigkeiten, mal gibt es Erfreuliches, dann wieder Entsetzliches... - jedoch niemals Langeweile.

Den Erkenntnissen und Mutmaßungen der Kafka-Forschung, der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Texten dieses unvergleichlichen Dichters, verweigere ich mich an dieser Stelle. Das ist mehr etwas für das Abitur oder Literaturstudium. Ob nun die eine Szene ein Sinnbild für Himmel und Hölle sein mag, oder die andere ein Spiegel des eigenen Exilantenschicksals, können wir getrost beiseite lassen, wenn wir ein Buch aus dem Grund in die Hand nehmen, aus dem es jemand geschrieben hat: Zum Lesen! Und das Lesevergnügen ist bei diesem Werk ein ganz beträchtliches. Obwohl Kafka damit nicht ganz fertig geworden ist.

Mein Fazit: Auch für jüngere Semster, die womöglich Kafka noch nicht kennen, wäre dies nach meinem Empfinden ein geeigneter Einstieg in ein einzigartiges literarisches Universum, in dem man nie weiß, was hinter der nächsten Galaxie liegen mag. Man wird es auch oft genug nicht erfahren, denn wenn Kafka uns Lesern irgend etwas schuldig bleibt, dann sind es logische Erklärungen.