Dienstag, 17. Februar 2009

Ich träume

Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt. -Mahatma Gandhi
Vor mehr als 30 Jahren habe ich meinen Zivildienst in einem Altenpflegeheim des Bayerischen Roten Kreuzes geleistet, auf einer Frauenstation. Es war eine ernüchternde und harte Zeit. Als am vergangenen Sonntag das Thema Altenpflege in der Sendung von Anne Will zur Sprache kam, erfuhr ich, dass sich mittlerweile wohl nichts zum Besseren gewandelt hat. Und die Erinnerung kehrte zurück.

Meine normale Schicht dauerte 8 Stunden, eine sinnvolle Einteilung, da auf diese Weise mit drei Schichten ein 24-Stunden-Tag abgedeckt ist. Laut Dienstplan gab es für die Frühschicht drei Pflegekräfte und einen Zivildienstleistenden, für die Spätschicht zwei Pflegekräfte plus ZDL und für die Nachtschicht eine Pflegekraft. Auf der Station waren 28 Patientinnen zu betreuen, sechs von ihnen waren noch so kräftig und selbständig, dass sie alleine essen, sich anziehen und die Toilette besuchen konnten. Die übrigen benötigten Hilfe dabei (Essen kleinschneiden, beim Einstieg in die Wanne helfen...) oder waren so pflegebedürftig, dass sie gefüttert werden mussten und bei Bedarf die Bettpfanne brauchten.
Nun ist der Dienstplan das eine gewesen, die Realität das andere. Wenn Pflegekräfte ausfielen, sei es wegen Krankheit oder Urlaub, gab es normalerweise keinen Ersatz. Das hieß, dass die verbliebenen Mitarbeiter eben entsprechend länger arbeiten mussten und dass die Zeit pro Patientin erheblich verkürzt werden musste.
Es war an der Tagesordnung, dass die noch relativ selbständigen Patientinnen beim Füttern und anderen Tätigkeiten halfen - was nicht unbedingt ein Fehler sein muss, da sie auf diese Weise »gebraucht« wurden, einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen konnten. Sie haben es, soweit ich das beurteilen konnte, gerne und mit Freude gemacht.
Allerdings konnten diese Handreichungen nichts daran ändern, dass für Pflegekräfte und ZDL Doppelschichten, gelegentlich auch Dreifachschichten, regelmäßig vorkamen. Im Klartext: Ich begann meinen Dienst morgens vor 7 Uhr und beendete ihn am nächsten Morgen nach 7 Uhr, da die Übergabe an die nächste Schicht jeweils dazugehörte. Lässt bei solchen Arbeitszeiten die Konzentration und Leistungsfähigkeit nach? Bei mir durchaus. Zehn Minuten Ruhe in der Teeküche oder im Schwesternzimmer reißen da nichts heraus. Es gab auch kaum einmal eine 5-Tage-Woche, sondern freie Tage dann, wenn es irgendwie möglich war. Mein Rekord lag, so weit meine Erinnerung mich nicht trügt, bei 14 Wochen ohne einen einzigen freien Tag.
Häufig war auch die Frühschicht nur mit einer Pflegekraft und einem ZDL besetzt. Also blieb nichts anderes übrig, als die Körperpflege der Patientinnen auf eine Katzenwäsche zu reduzieren und beim Füttern und Windeln so schnell wie möglich zu sein. Die Umlagerung bei Dekubitus-Patientinnen fand an solchen Tagen höchstens alle sechs oder sieben Stunden statt. Folglich verschlimmerten sich die Wunden. Auch Patientinnen, die noch zur Toilette gehen oder die Bettpfanne benutzen hätten können, wurden gewindelt, weil das Pensum anders einfach nicht zu schaffen war.
Und so manche Nachtwache übernahm ich, ohne Pflegeausbildung, weil andernfalls niemand auf der Station gewesen wäre.
Zeit, um sich mit den Patientinnen zu beschäftigen, ihnen etwas vorzulesen, ihnen zuzuhören, sie auch mal an die frische Luft zu bringen, gab es einfach nicht. Diese Illusion hatte ich noch gehabt, bevor ich meinen Zivildienst begann. Ich wollte - gemäß dem Zitat von Gandhi oben - etwas besser, etwas anders machen. Ich glaubte, ein ZDL wäre zusätzlich zu den examinierten Pflegekräften da, nicht an ihrer Stelle. Es blieb beim guten Vorsatz.

War dieses Pflegeheim ein extremer Einzelfall? Ich glaube, leider nicht. Gespräche mit anderen ZDL, die in der Altenpflege tätig waren, deuteten jedenfalls darauf hin, dass mir an meinem Dienstort nichts ungewöhnliches begegnete.
Und nun berichtete am Sonntag eine Altenpflegerin bei Anne Will über ihre Erfahrungen. Die scheinen sich kaum von meinen vor über 30 Jahren zu unterscheiden. Unfassbar, aber wohl leider wahr.

Und da sagt ein Herr Lauterbach (SPD) bei Anne Will:
Die Zahl der Pflegekräfte ist nicht entscheidend. Es gibt Einrichtungen, die haben sehr niedrige Pflegeschlüssel und haben eine akzeptable Qualität.
Aha. Eine akzeptable Qualität. Ob Herr Lauterbach schon mal versucht hat, einen wundgelegenen Po vom Durchfall zu reinigen?

Auf die Politik zu schimpfen ist zwar angebracht, aber es ändert nichts. Im »christlichen Abendland« ist Nächstenliebe nicht mehr gefragt. Das war schon einmal so, dass die Armen, Bedürftigen, Misshandelten keine Lobby hatten. Dann trat ein Mann auf, der sich ihnen zuwandte, der Kranke heilte, Hungernde speiste, Weinende tröstete. 2000 Jahre nach ihm rufen wir wieder nach dem Staat statt nach den Christen, wenn Not zu lindern ist.

Muss uns das nicht zum Nachdenken bringen? Ich sage bewusst »uns«, denn ich bin Christ. Ist es denn gar nicht denkbar, dass es in unseren Kirchen und Gemeinden Menschen gibt, die Zeit hätten, ein paar Stunden pro Woche den Pflegedürftigen zu dienen? Zum Windelwechsel und Füttern braucht man keine Ausbildung. Zum Vorlesen oder Zuhören auch nicht. Zum Schieben eines Rollstuhles durch den Park oder Garten bedarf es ebenfalls keiner sonderlichen Fertigkeiten. Zu meiner Zivildienstzeit kam Sonntags wenigstens der katholische Geistliche der örtlichen Kirche, um mit jeder Patientin - katholisch oder nicht - ein paar Minuten zu sprechen. Manchmal brachte er eine oder zwei Damen aus seiner Kirche mit, die dann mit einigen Patientinnen in den Garten gingen. So alle zwei bis drei Monate ein mal. Immerhin!

Ich träume von einer Christenheit in unserem Land, der die eigenen Belange weniger wichtig sind als das Leid der Menschen in der Umgebung. Und ich meine nicht nur alte, pflegebedürftige Menschen. Ich meine auch all die anderen, die hungrigen Kinder, die misshandelten Frauen, die verachteten Menschen mit anderer Hautfarbe...
Ich erträume mir eine Christenheit, bei der vor lauter Ora das Labora nicht auf der Strecke bleibt.

Es gibt Kirchen und Gemeinden, die in diese Richtung gehen. Gott sei Dank gibt es sie. Doch was meinen Traum betrifft, viel zu selten.

Ich träume.