Samstag, 11. April 2009

Verschwinde, Lebensmittelvergiftung!

Darf ein Autor sein Geschriebenes gut finden? Na klar. Sonst wäre er kein Autor.
Ich finde kaum jemals etwas aus meiner Feder
sehr sehr gut, aber gut durchaus. Sonst würde ich es nicht der Öffentlichkeit zumuten.
Kürzlich schaute ich mir ein paar ältere, unvollendete Texte an. Darunter ist eine längere Erzählung mit dem Arbeitstitel »Sophia«. Eine kleine Szene daraus fand ich beim Überfliegen nicht
sehr sehr gut, aber immerhin ansehnlich.
Kurze Erklärung, weil der Zusammenhang natürlich fehlt: Hilde und Anja sind Freundinnen, so um die 15 oder 16 Jahre alt. Oder 14? Na ja. Teenager auf jeden Fall.
Hilde spielt Harfe und steht vor einem großen und wichtigen Auftritt in einer fremden Stadt. Anja hat sie begleitet, die beiden teilen sich ein Hotelzimmer. Günter Zapf ist der Mitarbeiter des Konzertveranstalters, der die angereisten Teilnehmer betreut. Ach ja: Anja ist Christ, Hilde glaubt nicht an Gott.
Das Foto zeigt die beiden beim Verlassen des Hotels in der Hamburger Innenstadt. Vermutlich hat es Herr Zapf aufgenommen. Es war wohl ein eher kalter Tag, sonst wären diese warmen Jacken ja Blödsinn. Ist auch egal, denn was hat das Wetter mit dieser Szene zu tun? Gar nichts.
So, das reicht an Randinformationen und Rumgeschwafel. Bittesehr:


Waren es die Fischbrötchen gewesen? Oder das chinesische Essen? Was auch immer, beide hatten am Samstag früh Magenschmerzen und mußten sich wiederholt übergeben. Eigentlich hatte es schon in der Nacht begonnen, ihnen war hundeelend, ständig rannte eine von ihnen zur Toilette, zum Schlafen kamen sie nach 3 Uhr kaum noch. Je näher die Morgendämmerung rückte, desto schlechter ging es ihnen und desto verzweifelter wurden sie.
Ausgerechnet heute, an ihrem großen Tag, fühlte sich Hilde als hätte sie gerade eine neue, bahnbrechende, universelle Version der Übelkeit entdeckt: Weltuntergangskotzeritis. Wenn Anja nicht auch krank geworden wäre, hätte sie es womöglich auf ihre Nervosität geschoben, aber es ging ihrer Freundin nicht besser als ihr selbst.

Günter Zapf kam um 8 Uhr, um sie abzuholen, freudestrahlend und gutgelaunt. Er warf einen Blick auf die bleichen Mädchen und sagte: »Ich rufe einen Arzt an.«
Anja wollte etwas antworten, aber statt dessen hielt sie die Hand vor den Mund und rannte zum Klo. Sie schaffte es gerade noch.
Hilde lag bleich in ihrem Bett und weinte vor Enttäuschung. Das konnte doch nicht wahr sein, ausgerechnet jetzt wurden sie krank. Um neun Uhr begann die Probe, und sie lag auf der Matratze und fragte sich, wie oft ihr Magen eigentlich noch darauf bestehen würde, daß sie etwas von sich geben mußte, was schon längst nicht mehr da war.
Anja kam zurück und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Sie wollte seit Stunden etwas vorschlagen, aber der Mut hatte ihr bisher gefehlt. Wo sie doch sonst so mutig war. Jetzt oder gar nicht mehr, das wußte sie.
Stöhnend sank sie neben Hilde auf das Bett und sagte: »Darf ich noch etwas anderes probieren, bevor Sie einen Arzt rufen?«
Keiner verstand, was sie meinte.
»Ich möchte mit Hilde beten, daß zumindest sie gesund wird. Sie muß heute spielen, ich nicht.«
Günter Zapf sah sie ernst an. »Anja, wenn das eine Lebensmittelvergiftung ist, dann müssen wir einen Arzt rufen, und zwar schnell.«
Sie nickte. »Aber vorher möchte ich beten. Bist du einverstanden, Hilde?«
»In der Not frisst der Teufel Fliegen. Was immer mir hilft, damit ich mich besser fühle, soll mir recht sein. Also mach das, Anja.«
Anja sah ihr in die Augen und sprach mit leiser Stimme.
»Herr Jesus Christus, ich bitte dich, daß Du Hilde jetzt berührst und sie heilst. Laß diesen wunderbaren Tag für sie nicht durch diese Krankheit verdorben werden, bitte. Dann kann sie außerdem noch mitkriegen, dass es dich gibt. So. Und du, blöde Übelkeit und Kotzerei, Lebensmittelvergiftung oder was auch immer: Verschwinde! Raus aus dem Körper. Danke, Jesus. Amen.«
Gespannt sah Günter Zapf seine Schützlinge an. Er gab Hilde noch eine Minute, bevor er den Arzt anrufen würde. Mehr nicht, eine Minute. Wenn sie schon die Probe nicht schaffte, dann mußte sie möglichst zum Konzert am Abend auf die Beine kommen.
Hilde lag da, in ihrem naßgeschwitzten Nachthemd, und atmete tief durch. Die Augen waren geschlossen und sie sah nicht so aus, als sei sie auf dem Weg der Besserung.
Eine halbe Minute verging, Anja hielt Hildes Hand und bewegte leise die Lippen. Sie sah der Freundin ins Gesicht und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Als Zapf gerade das Mobiltelefon aus dem Jackett nahm, um einen Arzt anzurufen, schlug Hilde die Augen auf und sagte: »Danke Anja.«
Dann stand sie auf, noch etwas unsicher auf den Beinen und nach wie vor blaß unter der Sommerbräune, aber sie stand. Zweifellos, sie stand und konnte reden. Hilde lächelte Günter Zapf an und bat ihn freundlich: »Würden Sie bitte draußen warten, damit ich mich anziehen kann?«
Sein Mund blieb offen stehen. Das konnte doch nicht wahr sein. Hilde, die sich vor ein paar Minuten vor seinen Augen mühsam aus dem Bad zurück ins Bett geschleppt hatte, die kaum gehen konnte vor Krämpfen, bat ihn, zu warten, als habe sie nur verschlafen und deshalb noch ihr Nachthemd an. Aber da klebten ein paar unangenehm gelbgrüne Spritzer an dem Hemd. Er schüttelte den Kopf und fragte: »Wie bitte?«
»Es geht mir besser - Quatsch. Ich bin gesund und munter. Ich möchte mich anziehen, damit wir zur Probe fahen können.«
»Vielleicht sollten wir vorher duschen, ich glaube wir stinken beide.« schlug Anja vor. Auch ihre Blässe schwand zusehends.
»Na gut, ihr habt 15 Minuten.« sagte Zapf und ging kopfschüttelnd in den Frühstücksraum, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Bei den beiden war man wirklich vor keiner Überraschung sicher.
Bevor sie zur Dusche gingen, sprach Hilde das erste Gebet ihres Lebens. Es waren nur vier Worte, aber sie drückten alles aus: »Jesus, ich danke dir.«
Anja grinste schon wieder, als sei sie nicht noch vor zehn Minuten mit einem Mund voll bitterem Schleim zum Klo gerannt, schwitzend und zitternd. »So leicht drückst du dich nicht vor dem Auftritt, meine Liebe! Von wegen Übelkeit und Kotzeritis!«

Sie brauchten fünf Minuten länger, als Zapf ihnen zugebilligt hatte, aber nach zwanzig Minuten standen sie munter und vergnügt im Frühstücksraum und kicherten über die immer noch fassungslose Mine ihres Betreuers.