Freitag, 13. November 2009

Die Entblößung – Teil 7

Heute, liebe regelmäßige Leser, gibt es den siebten und letzten Teil der Geschichte, die als Mitmach-Experiment begonnen hat. Der eine oder die andere mag nun »schade« stöhnen oder auch nicht, aber anders als bei Jack Bauer ist ein Schluss in diesem Fall wirklich ein Schluss.

Wer die ersten Teile nicht gelesen hat, möge ich selbst den Gefallen tun, dies nachzuholen, bevor er den Schluss liest. Ich kann niemanden dazu zwingen, aber doch dringend empfehlen, sich nicht selbst den Spaß und die Spannung zu verderben. Teil 1 ///Teil 2 /// Teil 3 // Teil 4 // Teil 5 // Teil 6

Ist mein Experiment gelungen? Das zu beurteilen bleibt den geschätzten Lesern überlassen, die Meinung kann jeder und jede gerne am Ende dieser letzten Fortsetzung durch die auch diesmal vorhandene Abstimmung kundtun.

Doch nun schnell, bevor das Essen kalt wird, ins Restaurant zu Lisa und Stephan, die mir in den letzten Wochen sehr ans Herz gewachsen sind.

-- -- -- -- -- -- --

»In Butter gebratenes Zanderfilet, serviert auf knackigem Kürbisgemüse, dazu Stampfkartoffeln, garniert mit einem Klecks Creme Fraiche« – Lisa war mit zufrieden mit ihrem Mittagessen. Stephan Haberling, der lieber etwas Deftiges mochte, hatte sich für ein »Rumpsteak (ca. 230 g), mariniert mit Sojasauce, braunem Zucker, Worchestersoße, beträufelt mit einem Schuss Whisky, am Grill zubereitet, dazu hausgemachte Rosmarinbutter, Steakhousepommes & Tomaten - Zwiebel – Salat« entschieden, und auch er sah keinen Grund, sich zu beschweren.

Während sie gegessen hatten, war Lisa nicht bereit gewesen, über die vielen Fragen zu sprechen, die in ihm zappelten wie der frisch gefangene Zander vermutlich im Netz, bevor er in der Küche und schließlich auf Lisas Teller gelandet war. Er hatte gefragt, nach den nur schwach verklausulierten »Briefmarken«, nach den sehr privaten Fotos auf Isis’ Notebook, nach der entblößenden Galerie, aber Lisa – getreu ihrem Motto, auf Fragen nicht immer, eher selten, zu antworten – hatte zwar freundlich geplaudert, jedoch keine Antworten gegeben.

Die Kellnerin räumte das Geschirr ab und fragte nach weiteren Wünschen.

»Zwei Latte macchiato«, bat Lisa. Die Kellnerin meinte »gerne, kommt sofort« und verschwand.

»Woher weißt du, dass ich nach einer Mahlzeit gerne Latte macchiato bestelle?«

»Ich weiß mehr über dich und kenne dich besser, als du ahnst, Stephan. Du wurdest seit über acht Monaten beobachtet. Ich selbst bin seit zwei Monaten häufig in deiner Nähe gewesen, war auch mehrmals in deiner Wohnung, wenn du unterwegs warst. Das mit dem Latte macchiato ist so typisch für dich wie die unwägbaren Nebenwirkungen für eine H1N1-Impfung.«

»Das musst du mir erklären.«

»Die Nebenwirkungen?«

»Unfug. Natürlich die Beobachtung, Beschattung, oder sollte ich eher von Ausspionieren sprechen?«

»Eigentlich solltest du nicht verwundert sein. Du weißt doch, was Isis wirklich getan hat.«

Er wusste manches, aber vieles war auch unklar, vernebelt, gemutmaßt. Sie hatte, getarnt durch Scheintätigkeiten, seit vielen Jahren für den ägyptischen Geheimdienst gearbeitet. Vor der Hochzeit waren Stephan Haberlings Vergangenheit und Gegenwart bis ins Detail durchleuchtet worden, denn obwohl ihm Isis nie Einzelheiten aus ihrer Tätigkeit verriet, war es unumgänglich, dass er einiges mitbekam. Was es mit der angeblichen Briefmarkensammlung auf sich hatte, reimte er sich nach ihrem Tod selbst zusammen.

Er blickte in Lisas Augen, die den Augen seiner Isis so sehr glichen. »Sie war hinter den Attentätern her, oder?«

»Ja. Der ägyptische Geheimdienst hatte Informationen gesammelt, die auf einen Anschlag hindeuteten. Man wusste, dass irgendwie Piloten eine Rolle spielten, die von Ägypten über den Libanon und Deutschland nach Amerika gegangen waren. Die Briefmarke mit den Piloten stand für die Namen, die Landkarten-Briefmarke für das Ziel – oder die Ziele, wie wir heute wissen.«

»Und welches Puzzleteil hattest du? Welche Rolle spieltest du überhaupt?«

Lisa wartete, bis die Kellnerin die beiden Latte macchiato hingestellt hatte und wieder verschwunden war. Dann erklärte sie: »Die ganze Geschichte darf und werde ich dir nicht erzählen. Aber du sollst wissen, dass mein vorgetäuschter Unfalltod ein geplantes Verschwinden war, weil ich, damals ebenfalls im Dienst des Geheimdienstes, vor der Enttarnung stand. Inzwischen ist viel Zeit vergangen und diejenigen, die hinter meine Tarnung gekommen waren, sind tot. Meine aktive Mitarbeit im Geheimdienst endete im Dezember 2001. Daher konnte ich es wagen, vorsichtig und in Etappen, als Lisa del Giocondo aufzutauchen und ein halbwegs normales Leben zu beginnen.«

»Und was wolltest du Isis so dringend mitteilen?«

»Ich hatte – wir hatten drei Namen. Mohammed Atta, Marwan al-Shehhi und Ziad Jarrah. Wenn ich Isis diese noch rechtzeitig, also am 10. September, hätte nennen können, vielleicht wäre noch etwas aufzuhalten gewesen. Vermutlich nicht, die Zeit war zu knapp, aber der Gedanke lässt mich seit 2001 nicht los.«

»Weißt du, warum Isis im World Trade Center war?«

»Dort war ein als Agentur für Antiquitätenhandel getarntes Büro des ägyptischen Geheimdienstes untergebracht. Es lag im 95. Stockwerk des Nordturmes, daher weiß ich zumindest, dass meine Schwester sofort tot war, nicht leiden und vergeblich um ihr Leben kämpfen musste.«

»Das hatte ich immer gehofft, aber ich wusste nichts Genaues.«

»Man hat mir aus ihrem Hotelzimmer damals unter anderem ihren Computer gebracht, nachdem die Spezialisten vom Geheimdienst mit den Untersuchungen fertig waren. In ihren Outlook-Terminen habe ich dann das Büro und die Uhrzeit des Treffens gefunden. Da stand Briefmarkensammlung vorstellen, 08:30 Uhr und der Ort, das Büro im World Trade Center. Isis war immer pünktlich. Sie muss zum Zeitpunkt des Anschlages genau dort gewesen sein.«

 

Lisa und Stephan am Schlachtensee Später spazierten Stephan Haberling und Lisa del Giocondo, obwohl leichter Regen eingesetzt hatte, um den Schlachtensee. Er verstand sich selbst nicht recht. In Lisas Nähe zu sein war wie eine Wiedergeburt. Nach dem 11. September 2001 hatte sich sein Leben nicht nur äußerlich durch den Verlust der Ehefrau, sondern – und vielleicht sogar vor allem – bezüglich seiner Einstellung zum Leben und Sterben geändert. Ob er morgen wieder aufwachen würde, spielte am Abend jedes beliebigen Tages keine Rolle. Er hatte Freundschaften, aber es gab keinen Menschen, der ihm so am Herzen lag, dass er wegen dieser Person leben wollte. Umgekehrt wusste er von niemandem, für den oder die sein Abscheiden ein unwiederbringlicher Verlust gewesen wäre. Stephan Haberling lebte gerne, aber er klammerte sich nicht an das Diesseits, seit Isis nicht mehr bei ihm war.

Und nun schien sich binnen weniger Tage, eher Stunden, alles zu ändern. Eine Frau, von der er noch so gut wie nichts wusste, die er kaum kennen gelernt hatte, stellte sein Innenleben völlig auf den Kopf. Wider jede Vernunft. Wider jeden Verstand.

»Hast du dich eigentlich in mich verliebt?«, fragte er.

Lisa zögerte keinen Augenblick mit ihrer Antwort: »Ja.«

»Einfach nur ja?«

»Einfach nur ja. Kein wenn, kein aber. Ja.«

»Aber warum tust du mir das an, mit der Entblößung in der Galerie?«

»Du bist ein wunderbarer Aber-Mensch, Stephan. Die Antwort liegt in dir, du musst sie selber finden. Du wirst sie selber finden.«

Sie wichen zwei Dalmatinern aus, die vergnügt miteinander tollten. Die Besitzerin lächelte entschuldigend-schuldbewusst und erklärte ungefragt: »Die tun nichts, die sind nur etwas wild.«

Als sie an der Dame und ihren Hunden vorbei waren, ergänzte Lisa: »Manchmal bin ich auch nur etwas wild.«

»Aber du tust auch was. Männer im Internet bloßstellen, zum Beispiel.«

»Männer? Nein. Einen Mann. Ich habe zwar schon zahlreiche Aktfotos gemacht, das gehört ja zu meinem Beruf, aber die bekamen natürlich nur die Kunden zu sehen, die sie in Auftrag gegeben hatten.«

»Was sind denn das so für Kunden?«

»Wollen wir in der Fischerhütte noch einen Kaffee trinken gehen, oder lieber nach Hause fahren?«, fragte Lisa, statt zu antworten.

Stephan nahm ganz automatisch an, dass mit zu Hause seine Wohnung gemeint war. »Ich könnte meine De Longhi veranlassen, uns zwei Getränke nach Wahl zu produzieren.«

Sie stiegen in Stephans Auto, für das sie am Elvirasteig einen Parkplatz gefunden hatten. Lisa griff unter den Beifahrersitz und warf dann etwas aus dem Fenster, als Stephan gerade losfuhr.

»Was war das denn?«

»Das Abhören hat sich seit einigen Wochen erübrigt. Ich hatte nur vergessen, die Wanze aus deinem wunderbaren HHR zu entfernen. Aber zugehört hat schon länger niemand mehr. In deiner Wohnung ist bereits alles beseitigt worden, was meine ägyptischen Freunde installiert hatten. Wir sind sozusagen freigegeben und nur noch unter uns.«

 

»Das Hemd steht dir übrigens wirklich gut«, sagte Lisa del Giocondo, als sie in Stehpan Haberlings Küche standen und darauf warteten, dass die Maschine ihre Arbeit verrichtete.

Er grinste, war gespannt, ob sie tatsächlich ein Gespräch über seine Kleidung anstoßen wollte oder wie so oft gleich wieder das Thema wechseln würde. Am Morgen hatte er sich entsprechend der Entblößung im Internet gekleidet. Und entsprechend der Reihenfolge, die er vor gefühlten hundert Jahren bei der kleinen Natalie beobachtet hatte. Zuerst das T-Shirt, dann das Freizeithemd, anschließend erst Jockey-Briefs und Jeans.

Zum Restaurantbesuch hatte er Socken und feste Schuhe angezogen, zu Hause trug er gewöhnlich nur leichte Sandalen an den bloßen Füßen, so auch jetzt wieder.

Lisa musterte ihn schmunzelnd, während er die erste gefüllte Tasse gegen eine leere auswechselte und wieder auf Caffeelatte drückte. Unvermittelt nahm sie ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. Er ließ es sich gerne geschehen – seinetwegen konnte dieser Augenblick sich unendlich ausdehnen. Es fühlte sich so neu und doch so alt an wie eine Erinnerung aus Kindheitstagen, die längt vergessen schien und plötzlich, vielleicht durch ein Geräusch oder einen Geruch geweckt, wieder da ist, als sei das zum Geruch oder Geräusch gehörende Ereignis erst Minuten her.

Und nun begriff er plötzlich. Er verstand und fragte sich, warum er so lange gebraucht hatte.

Sanft nahm er Lisa in die Arme, ließ seine Hände über ihren Rücken streichen. Schmiegte sie sich noch enger an ihn? Er schob behutsam den Saum ihres Pullovers in die Höhe. Sie schien erleichtert auszuatmen, zumindest deutete er das Geräusch so, das er von ihrem an seine Brust gepressten Gesicht vernahm. Sie wich einige Millimeter zurück, aber nur so weit, dass es möglich wurde, sie vom Pullover zu befreien.

Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu.

Wieso hatte er eine so lange Leitung gehabt? Sie hatte ihm im Internet lediglich zugefügt, was sie wollte, dass er ihr tat.

Man könnte das ja noch aufhalten. Irgendwie.

Er war gerade dabei, es aufzuhalten. Nicht irgendwie, sondern auf die einzig mögliche Art und Weise. Er tastete nach ihrem Jeansgürtel.

 

Einige Tage später fiel ihm ein, dass eine einzige Antwort noch fehlte. Sie waren vom Einkaufen nach Hause gekommen und im Treppenhaus dem stets wachsamen Nachbarn Detlef Fischer begegnet.

»Mein Nachbar, beziehungsweise sein Kollege im Polizeilabor, war überzeugt, dass die Fotos echt, also nicht nachträglich manipuliert, waren. Hat er sich einfach geirrt oder wie hast du das angestellt?«

Lisa lachte vergnügt und erklärte: »Isis und du, ihr habt es mir sehr leicht gemacht. Der hellgrüne Hintergrund mit so gut wie keinen Farbschattierungen ist ideal, wenn man jemanden oder etwas ausschneiden und vor einen anderen Hintergrund stellen will. Das geht sogar mit bewegten Objekten, zum Beispiel im Nachrichtenstudio eines Fernsehsenders. Der Sprecher steht oder sitzt vor einer grünen Fläche. Du siehst am Bildschirm etwas ganz anderes. Das wirklich etwas Kniffelige war, ein paar Kleidungsstücke aus Deinem Schrank an die Person zu bekommen. Da musste ich mit einer Schaufensterpuppe und allerlei Tricks experimentieren.«

»Und das konnten die im Polizeilabor nicht feststellen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Erstens bin ich Profi hinter der Kamera und bei der Bearbeitung, und zweitens wollten die Leser unserer Geschichte mehrheitlich, dass die Fotos für echt befunden werden. Gegen den Leserwillen kann selbst die Polizei nichts ausrichten.«

-- -- -- -- -- -- --

So, das war es nun also, das Ende der Geschichte. Die beiden dürfen nun von uns unbeobachtet weiter leben, lieben und womöglich leiden. Wer weiß das schon, was das Leben bringen wird.

Und die geschätzten Leser? Die dürfen abstimmen, ob sie irgendwann einmal ein ähnliches Experiment an dieser Stelle lesen und begleiten möchten.

Das Experiment der Mitmach-Geschichte...
...hat mir gefallen. Bitte wieder mal so was in der Art.
...fand ich nicht gelungen. Lass es lieber sein.
Auswertung

Ich wünsche ein angenehmes Wochenende. Lisa und Stephan sind, das weiß ich aus gut unterrichteter Quelle, zu einem Wohlfühl- und Ausspann-Wochenende in Bad Sassendorf, wo immer das auch sein mag.