Mittwoch, 24. Februar 2010

Es menschelt hier wie dort

Der eine oder andere hat sich schon hinter das Steuer seines Autos gesetzt, obwohl der Fahrt Alkoholgenuss vorangegangen ist, dessen Quantität zumindest bedenklich war. Meist passiert nichts, und relativ selten wird jemand erwischt. Wenn doch, dann steht das höchstens in einer Statistik, aber in keiner Zeitung auf der Titelseite.
Interessant wird eine bei Rot überfahrene Kreuzung und die anschließende Blutprobe für die Medien dann, wenn es um prominente Verkehrssünder geht. Bei Margot Käßmann, die gerade Kraft des Amtes zum Fasten, speziell unter anderem zum Verzicht auf Alkohol und Autofahrten, aufgerufen hatte, war die Häme um so größer. Auch in einigen Leserkommentaren. Da las ich unter einem Zeitungsbericht: »Erst geschieden, jetzt auch noch Alkoholikerin. Diese unchristliche Frau muss weg aus dem Amt!« Aus welcher religiösen Ecke der anonyme Leserbriefschreiber wohl kam?

Viele Ehen werden geschieden, das ist bedauerlich, aber dennoch eine Tatsache. In besonders »bibeltreuen« christlichen Kreisen, in denen eine Ehescheidung als schlimme Sünde gilt, die hinfort die Ausübung eines geistlichen Amtes unmöglich macht, wird gerne verlautbart, dass christliche Ehen haltbar sind, wenn genug »Salbung« vorzufinden ist.
Nun wird einer der in solchen Kreisen als ganz besonders »gesalbt« geltenden »Männer Gottes« geschieden, Benny Hinn. Kann man noch geistlicher, noch gesalbter sein als er? Seit Jahrzehnten predigt er Heilung, auch Heilung von Beziehungen. Nach seinen Aussagen trifft ihn die Scheidung völlig unvorbereitet. Offenbar hat er mit seiner Ehefrau nicht sonderlich viel Kontakt gehabt, wenn ihm so lange verborgen geblieben ist, dass seine Ehe zerrüttet und in Gefahr geraten war.

Es menschelt in der evangelischen Landeskirche. Es menschelt in charismatischen Sphären. Frau Käßmann hat klare Worte des Bedauerns, der Reue gefunden und ist von ihren Ämtern zurückgetreten. Das verdient Respekt. Von Herrn Hinn ist bisher nichts zu hören, was auf Einsicht in eigene Fehler deuten würde. Er ist mitten in einer Miracle Crusade und lässt sein Team verlautbaren: »Pastor Hinn also wants everyone to know that he remains firmly and unquestionably committed to God's calling...«

Zwei prominente Menschen, bei denen es öffentlich menschelt. Wie sieht es wohl bei Otto Normalverbraucher und Renate Mustermann aus? Dort, wo keine Presse die Nase hineinsteckt?

Ehniss, Wagner und andere: Beziehungsweise Leben

bzwl Viele Köche sollen ja angeblich den Brei verderben. Man müsste den Brei probieren, um zu wissen, ob das stimmt.
Jedoch: Ein Buch ist nachweislich kein Brei, also dürften sowieso andere Gesetze gelten. Dass viele Autoren, 17 an der Zahl, gemeinsam eine hervorragende Lektüre zu Papier bringen können, zeigt »Beziehungsweise Leben«, herausgegeben von Daniel Ehniss und Björn Wagner.
Es geht in diesem knapp 200 Seiten umfassenden Werk um »Inspirationen zum Leben und Handeln im Einklang mit Gott und Menschen« - um Inspirationen wohlgemerkt, nicht um eine Anleitung. Ob die überhaupt gelingen könnte, wage ich zu bezweifeln. Ich bin froh, dass diese Autoren es gar nicht versuchen, sonst hätte ich nicht bis zur letzten Seite durchgehalten.
Die Inspirationen in diesem Buch sind vielfältig und zielen auf unterschiedliche Bereiche. Es stellt sich uns doch zunehmend die Frage, wie gelebte »Gemeinschaft« heute gelingen kann, im Zeitalter von Blog, Twitter, sogenannten sozialen Netzwerken, Smartphones und anderen Errungenschaften der modernen Kommunikationsgesellschaft. Es wird kommuniziert, noch und noch, aber kann das Ergebnis guten Gewissens als »Gemeinschaft« bezeichnet werden?
Das Buch beleuchtet hauptsächlich drei Themenbereiche. »Beziehungsweise beten«, »beziehungsweise handeln« und »beziehungsweise organisieren«. Das klingt erst mal recht theoretisch, aber die Lektüre zeigt schon auf den ersten Seiten, dass hier Frauen und Männer aus ihren persönlichen Erfahrungen heraus schreiben, Misserfolge und Irrwege eingeschlossen. Nur wer gar nichts wagt, ist einigermaßen sicher vor Fehlern, doch ein solch langweiliges Leben ist das Anliegen dieses Buches nicht. Sondern ein Leben in Beziehungen - göttlichen wie menschlichen.
Wer rundum und völlig damit zufrieden ist, dass Christsein sich auf den sonntäglichen Kirchgang (oder Gemeindebesuch) beschränkt, bei dem dann ein Programm konsumiert werden kann und die eigene Beteiligung sich auf Gesang und eventuell gemeinsames Gebet beschränkt, der wird diesem Buch nicht viel abgewinnen können.
Falls sich jedoch jemand fragt, warum das Modell aus der Apostelgeschichte nicht mehr funktioniert, ob eine Versammlung von Gläubigen unbedingt aus Gesang - Ansagen - weiterer Gesang - Gebet - Predigt - noch mehr Gesang bestehen muss, oder falls sich jemand Gedanken macht, warum Christsein in der Gesellschaft fast nur noch wahrgenommen wird, wenn es darum geht, Missbrauch aufzudecken oder andere Schandtaten an den öffentlichen Pranger zu stellen, dann kann das Buch durchaus die zündenden Impulse vermitteln, um selbst etwas zu bewirken, was die Lage ändert. Das Warten darauf, dass »irgendwas geschieht«, idealerweise eine Erweckung vom Himmel purzelt, ist jedenfalls nicht Anliegen dieses Werkes. (Man kann übrigens - dies nur zur Beruhigung für meine Freunde aus entsprechenden Kreisen - das Buch lesen und trotzdem eine Erweckung erwarten, wenn man möchte.)
Es sind spannende Geschichten in »Beziehungsweise Leben« zu finden, vom Entstehen der »Arche Hamburg«, von spür- und sichtbaren Veränderungen in Stadtteilen durch aufgewachte Christen, von einer Abschiebung, von mittelalterlichen Pfarrhäusern, von Gottesdiensten, die nicht Gottesdienst heißen sondern »SundayPlaza«...
Ja, und damit bin ich beim einzigen, ganz subjektiv empfundenen Manko dieses Buches. Einige wenige Kapitel schwelgen förmlich in merkwürdigen Wortschöpfungen mit Großbuchstaben mitten im erfundenen Wortungetüm und zweifelhaften Anglizismen. Vieleicht bin ich diesbezüglich altmodisch, konservativ...
Doch dieses - wie gesagt ganz subjektiv empfundene - gelegentliche sprachliche Entgleisen ändert nichts an meinem Fazit: Unbedingt lesenswert, wirklich inspirierend, alles andere als langweilig. Kein trockenes Theologenwerk, sondern von und für Menschen geschrieben, die mitten im echten Leben stehen und mehr sein wollen, als Platzinhaber in Kirche oder Gemeindesaal. Die Lektüre hat mich an vielen Stellen inspiriert, weiter oder anders zu denken als bisher.
Das Buch gibt es für 12,95 Euro beispielsweise bei Amazon: Beziehungsweise leben: Inspirationen zum Leben und Handeln im Einklang mit Gott und Menschen