Montag, 19. April 2010

Wer bist du, Jessika? – Teil 5

image Sie neigt sich dem Ende zu, diese Geschichte, unweigerlich. Im ursprünglichen Entwurf der Erzählung (aus dem Jahr 1996) begann die Konfrontation zwischen Bernd und Jessika gleich nach dem Busunglück.
Doch die Leser haben anders abgestimmt. Und ich habe entsprechend überarbeitet. Bin ja ein braver Junge oder so was…

Ach ja, noch schnell der Hinweis für Zufallsgäste: Dies ist die Fortsetzung einer Geschichte. Wer Teil 1 und Teil 2  und Teil 3 und Teil 4 sucht, wird mit Klick auf Teil 1 und Teil 2 und Teil 3 und Teil 4 fündig.
So. Nun aber:
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Zwölf Wochen nach Jessikas Erscheinen in seinem Leben liebte Bernd sie immer noch wie am ersten Tag, nein, immer mehr sogar, je vertrauter sie miteinander wurden. Das Feuer der Leidenschaft erwies sich als unauslöschlich. Trotz aller Zweifel und offen gebliebener Fragen. Man gewöhnt sich an Ungewöhnliches, ziemlich schnell sogar, wenn die Begleitumstände angenehmer Natur sind.
Jessika schien jede Einzelheit seines Lebens, jede Angewohnheit, jeden Gedanken zu kennen. Das machte ihm nichts mehr aus, erstaunte ihn noch hin und wieder, sorgte aber nicht mehr für Irritationen oder Bedenken. Bernd genoss sein unerwartetes und unverdientes Wohlergehen, gelegentlich tauchte unbestimmte Angst auf, dass so viel Glück auf keinen Fall andauern konnte. Doch im Augenblick, nach rund der Hälfte seines Lebens, meinte es das Schicksal außergewöhnlich gut mit ihm. Wenn die zweite Hälfte so weiterging, wenn die Liebe, die er bisher nur aus seinen und anderen Büchern gekannt hatte, tatsächlich für ihn Realität bleiben würde, dann war er eindeutig der glücklichste Mensch auf dieser Welt.
Es interessierte ihn nicht mehr, ob Jessika aus dem Weltraum, aus seinem Kopf oder schlicht aus einem Kuhkaff irgendwo in Vorpommern gekommen sein mochte. Was zählte war, dass sie mit ihm das Leben teilte und dass sie ihn liebte wie er sie liebte. Nicht nur körperlich, doch auch und gerade diese Komponente war eine Offenbarung.
Bernd hatte über Sex geschrieben, nicht immer so dezent wie ein alter Film, wo die Kamera ausblendete oder den Blick aus dem Schlafzimmerfenster hinaus auf den Sonnenuntergang führte, bevor das Paar im Bett die Decken von sich streifte oder strampelte. Er hatte sich nie gescheut, auch erotische Fantasien zu Papier zu bringen; wie detailliert das jeweils ausfiel, hing einfach von der Zielgruppe ab, für die er schrieb.
Auguste Rodin: The KissSein eigenes Sexleben war, bis Jessika auftauchte, langweilig. Er hatte keine Partnerin, die Mutter seiner jetzt sechzehnjährigen Tochter lebte seit vierzehn Jahren mit einem anderen Mann zusammen. Bernd hatte Sex nie für etwas gehalten, was für ihn persönlich wichtig oder sogar eine Quelle unendlichen Vergnügens werden konnte. Er hatte seine rechte Hand, every poet masturbates, hatte er einmal in einem Rockkonzert auf dem Riesenmonitor über der Bühne gelesen, und das war die ganze nüchterne Wahrheit. Mit seinen einundvierzig Jahren hatte er auch keine großen Träume oder Ambitionen mehr gehabt, die große Liebe zu finden.
Mit Jessika war alles anders geworden.
Alles.
Anders.
Geworden.
Er wusste als belesener Mensch natürlich, dass Sex gesund und für das allgemeine Wohlbefinden förderlich ist, aber vor Jessikas Erscheinen hatte Bernd keine Ahnung gehabt, in welchem Ausmaß das zutraf. Er erkannte sich selbst kaum wieder. Every poet needs the pain war ein weiterer Satz vom Monitor beim Konzert mit U2 vor vielen Jahren. Wenn das stimmte, war er kein Poet mehr. Jeglicher Schmerz war vergessen, Bernd war einfach nur glücklich und zufrieden.
Und produktiver als je zuvor. Seit Jessika da war, schrieb er phantasievoller und fließender. Er war auch zuvor nicht schlecht gewesen, abgesehen von Gedichten aus Teenagertagen, aber die schrieb vermutlich jeder Pubertierende und jeder schrieb sie gleichermaßen grauenhaft. Seine Geschichten verkauften sich recht gut, seine Bücher erzielten ansehnliche Auflagen. Dahinter steckte sehr viel Mühe und Arbeit, Ringen um die richtigen Worte, Feilen an Formulierungen, Umschreiben oder Verwerfen ganzer Passagen…
Jetzt schrieb er plötzlich leicht und inspiriert, als diktiere ihm eine unhörbare Stimme. Er schrieb manche Nacht durch, Jessika hielt sich im Hintergrund, brachte ein Glas Wein oder Bier genau dann, wenn ihm danach war, leerte hin und wieder den Aschenbecher neben der Tastatur, fragte nichts und unterbrach ihn nicht. Nur manchmal küsste sie ihn auf die Stirn: Kribbeln tief drinnen, irgendwo.
Wenn er nach stundenlangem Arbeiten erzählen wollte, wie weit er war und was er geschrieben hatte, wusste sie es bereits, obwohl sie selten einmal einen Blick über seine Schulter auf den Bildschirm geworfen hatte.
Er hatte nach einer Weile aufgehört, ihr vom Fortschritt der Arbeit erzählen zu wollen, bat sie stattdessen manchmal um einen Kommentar, eine Wertung, Tipps, Hinweise.
Sie hatte gute - nein, sie hatte perfekte Ideen. Kleinigkeiten meist, die jedoch dem Text etwas hinzufügten, was Bernd als genial bezeichnen musste.
Gelegentlich änderten diese Kleinigkeiten die Richtung, die eine Erzählung nahm, waren am Ende ausschlaggebend für den Schluss; und wenn das vorkam, dann war das Ergebnis immer überzeugender und logischer als das, was er zuerst im Kopf oder auf dem Bildschirm gehabt hatte.
»Meine Muse«, nannte er sie dann, »meine Pampelmuse.«
»Willst du jetzt und hier, gleich am Schreibtisch, pampeln?« Zwinkern, erst rechts, dann links.
»Pampeln ist Babysprache.«
»Wir müssen ja nicht sprechen«, gab sie zurück und entledigte ihn seiner Kleidung. Er ließ es gerne geschehen…
Bernd bemerkte nicht, dass Jessika nicht nur seine Arbeit, sondern sein ganzes Leben prägte, mehr und mehr bestimmte. Unmerklich ging die Übernahme vonstatten. Er war immer sehr auf seine Selbstständigkeit bedacht gewesen, und genau darauf nahm Jessika entweder Rücksicht, oder sie machte instinktiv alles richtig. Sie lenkte ihn wie seine Erzählungen, dirigierte seine Gewohnheiten, seinen Tagesablauf, aber stets so, dass es ihm wie seine eigene Wahl vorkam. Jessika brachte ihn dazu, so zu entscheiden, wie sie es wollte.
Manchmal regte sich etwas in ihm. Eines Nachts hatte sie in der Küche hantiert, Bernd saß am Computer und dachte zurück an sein Leben vor Jessika. Wie ein Schatten, der irgendwo im Nebel der Gedanken schlummert, von dem man weiß, dass er irgendwo vorhanden ist, hatte sich etwas bemerkbar machen wollen in seinem Kopf. Aber es war nicht durchgedrungen. Das es-liegt-mir-auf-der-Zunge-gleich-habe-ichs-Gefühl führte nirgendwo hin. Das Etwas war bedrohlich, dunkel, unangenehm. Sehr sehr unangenehm sogar. Bernd wollte es nicht wissen, aber er fürchtete, dass es von entscheidender Bedeutung war. Er musste nachdenken, weil sonst … weil ihm …
Während er noch im Nebel stocherte, kam Jessika mit frisch angemachtem Salat und einer Flasche Rotwein, ihr Lächeln und die willkommene Ablenkung verscheuchten das Gefühl. Bernd dachte wochenlang nicht mehr darüber nach.

In einer Großstadt passiert jeden Tag Schlimmes. Die Menschen sind daran gewöhnt. Sie lesen Meldungen in der Tageszeitung oder sehen Berichte im Regionalprogramm, murmeln vielleicht wie schrecklich oder die armen Menschen, und dann schieben sie sich die nächste Fuhre Kalbsschnitzel in den Mund und spülen mit Bier nach. Oder Pasta mit Rotwein. Oder die Butterstulle und Pfefferminztee.
Ein Handelsvertreter, der von Tür zu Tür seine Reinigungsmittel anbietet, verschwindet spurlos. Niemand weiß, an welcher Tür er zuletzt geklingelt hat.
Ein Bauarbeiter stürzt vom Gerüst, aus dem neunten Stockwerk, er ist sofort tot. Er kann niemandem mehr erzählen, was ihn so erschreckt hat, dass er das Gleichgewicht verlor.
Niemand weiß, ob der zwölfjährige Junge gegen den einfahrenden U-Bahn Zug gesprungen ist oder gestoßen wurde. Viele wissen, dass seine Gehirnmasse auf dem Bahnsteig im Neonlicht funkelte, weil die BILD Zeitung ausführlich darüber berichtet hat, mit Foto natürlich.
Großbrand einer Tankstelle. Zwölf Tote. Keine Zeugen. Kein Bekennerbrief. Aber Spuren von Brandbeschleunigern.
Raubmord in einer Kneipe auf dem Männerklo. Das Opfer ist beim Pinkeln von hinten erstochen worden. Niemand hat gesehen, wer außer dem Opfer die Toilette betreten hat.
All diese Unglücks-und Kriminalfälle aus den Regionalnachrichten waren Bernd unbekannt. Er bekam gar nicht oder nur am Rande mit, was in Berlin an Sex & Crime vor sich ging. Er interessierte sich für die Tagesschau, den Weltspiegel, das Auslandsjournal, aber kaum für lokale Meldungen. Der Berliner Tagesspiegel, den er abonniert hatte, blieb so gut wie immer ungelesen, abgesehen vom Kulturteil und ein paar Schlagzeilen auf der ersten Seite.
Er arbeitete gerade an einer Gute-Nacht-Story für Leute, die schlecht oder gar nicht schlafen wollten. Sein Verlag bereitete einen Auswahlband von Horrorgeschichten vor und Bernd sollte zwei Erzählungen beisteuern. Eine war seit Wochen fertig, es ging um einen Jungen, der im Buddelsand eine Handgranate findet. Die zweite schrieb er gerade. Eine Medizinstudentin, die einmal durch das Examen gefallen war, übte zu Hause eifrig für die Anatomieprüfung, indem sie Menschen aufschnitt und deren Organe untersuchte. Lebendige Menschen, wegen der Frische der Organe. Etwa zwei oder drei Seiten fehlten dem Manuskript noch zum gewünschten Umfang. Bernd beschloss, eine Denkpause einzulegen.
Er setzte sich ins Wohnzimmer und blätterte im Tagesspiegel, um kurz ausspannen, ein paar Minuten weg vom Bildschirm und den Überlegungen zu seiner Geschichte zu sein.
Ermittlungen ergebnislos - Unfallursache bleibt Geheimnis titelte die Zeitung im Lokalteil, den Bernd zufällig aufschlug. Darunter wurde in kurzen Sätzen berichtet, dass die Untersuchungen eines tragischen Unfalls zwischen Linienbus und Tanklastwagen eingestellt worden waren. Vom Fahrtenschreiber war nichts übrig, und Zeugen konnten nichts zur Klärung beisteuern. Der Arzt der Busfahrers konnte lediglich aus seinen Unterlagen ein gesundes Herz und keinerlei Anzeichen für einen drohenden Gehirnschlag oder sonstiger Gefährdungen attestieren. Busfahrer müssen regelmäßig zur Gesundheitsüberprüfung, die letzte war zum Unfallzeitpunkt erst drei Monate her gewesen.
Das Datum des Unfalls war in Klammern angegeben. Bernd starrte auf die Zeitung: »Bei dem Unglück (14. Mai) kamen fünfzehn Menschen ums Leben.«
Ein Kälteschauer überzog Bernds Stirn, dann den Rücken. Am 13. Mai war er beim Zahnarzt gewesen und hatte sich hinterher betrunken wie nie zuvor. Das Datum hatte sich eingeprägt, weil er eine Kurzgeschichte darüber geschrieben hatte. Vollrausch 13-05 hatte er sie genannt.
Am 14. Mai hatte Jessika ihm Aspirin mitgebracht von ihrem Ausflug zum Bierpinsel. Und sie hatte ganz leicht, fast unmerklich, aber eben nur fast, nach verbranntem Gummi, Benzin, Kerosin, was auch immer… sie hatte nach einem unglaublich heißen Feuer, einer Explosion gerochen. Er hatte an ihrem Haar geschnüffelt und gesagt, dass ihn der Geruch an einen abgebrannten Bauernhof erinnerte, den er vor Jahren besichtigt hatte.
Jessika hatte lachend erwidert: »Ich bin eben so heiß auf dich, Bernd, dass man das schon riechen kann. Gleich brenne ich durch!« Kopfschmerz und Übelkeit vergingen dann zügig, nicht nur dank der Tabletten.
Nun starrte er etliche Wochen später auf dieses Datum und fragte sich, ob es einen Zusammenhang gab. Fast wieder riechen konnte er den seltsamen Feuerodem von damals. Das Etwas drängte sich energisch in sein Bewusstsein.
Jessika hat die Familie Aksu umgebracht. 
Eine dumme Vermutung, längst vergessen.
Und der Brandgeruch?
Zufall, was sonst.
Wo war Jessika, als der Fahrstuhl abstürzte? Wo war sie, als die Menschen im Bus verbrannten? Wo war sie, als…
Jessika war auf dem Balkon, goss im Evaskostüm die Pflanzen. Bernd legte die Zeitung weg und ging zu ihr hinaus.
»Kommst du gut voran mit der Medizinstudentin?«, fragte sie, obwohl sie natürlich wusste, ob und wie er vorankam.
»Ja, sehr gut. Der Handelsvertreter ist jetzt im neunten Stockwerk und klingelt an einer Tür, an der kein Namensschild befestigt ist.«
»Wie wäre es, wenn er, bevor er klingelt, kurz innehält, weil er ein Geräusch hört?«
»Warum?«
»Er könnte zum Beispiel das gedämpfte Summen eines elektrischen Küchenmessers hören.«
»Und dann?« Er sah Jessika gespannt an. »Was dann? Macht die Studentin mit dem blutverschmierten Messer in der Hand die Türe auf oder was?«
Jessika lachte fröhlich. »Nein, natürlich nicht. Sie weiß ja nicht, wer draußen steht, ob es ein passendes Opfer ist oder nicht. Es könnte ja der Postbote sein oder ein Bekannter oder eine Nachbarin… irgend jemand, der schnell vermisst wird. Nein, sie ist ja nicht blöd. Immerhin studiert die Medizin, hat einen enormen IQ.«
Bernd nickte. »Okay, sehe ich auch so, aber warum soll er dann das Messer hören?«
»Er könnte es hören und dabei beschleicht ihn eine Vorahnung, ein dunkles, undefinierbares Grauen vor diesem an und für sich ja harmlosen Geräusch. Fast will er weitergehen. Fast. Später, als sie dann das Messer ansetzt, sind seine letzten Gedanken, dass er genau dieses Geräusch schon einmal gehört hat, er weiß bloß nicht wo und wie, weil die Angst und Schmerzen ihn am Denken hindern. Dann, als er stirbt, im letzten Augenblick eben, weiß er es wieder. Das summende Geräusch hat er durch die Tür gehört.«
»Gefällt mir sehr gut. Manche Leute werden zwar sagen, ich hätte ein bisschen meine Jessika-Story kopiert, mit der schnittsüchtigen Hausmeisterin, aber die Idee ist gut.«
»Dann schreib das auf«, sagte Jessika und küsste ihn auf die Stirn. Das Kribbeln, tief drinnen, und bis hinunter ins Rückenmark. Die Bewegung unter der Gürtellinie. Das Leben, wie er es vor Wochen nicht gekannt hatte.
Am übernächsten Abend sah Bernd in den Fernsehnachrichten einen kurzen Bericht über das Auffinden mehrerer zum Teil schon verwesender Leichen, denen bestimmte Organe entnommen worden waren. Fachmännisch, dem Vernehmen nach. Das jüngste Opfer war ein Handelsvertreter, der…
Bernd rannte auf die Toilette und übergab sich ausgiebig. Jessika war noch unterwegs, wo auch immer, und ihm dämmerte, dass es vielleicht besser wäre, sie würde nicht zurückkommen.
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Jetzt, liebe Leser, ist es soweit. Was noch fehlt, was noch kommt, ist der Schluss der Geschichte. Und diesbezüglich begebe ich mich nun völlig in die Hände des Publikums, denn ich weiß nicht, was besser ist: Ein toter Bernd oder ein überlebender Bernd.
Ich tendiere… – ach nein, das würde ja einer Beeinflussung gleichkommen.
Also, bitte helft mir:


Aber Hallo! Ist doch klar:
Bernd muss sterben!
Bernd darf leben!
Isch weeeiß et nit!
Auswertung

P.S.: Bild: Auguste Rodin – The Kiss