Montag, 3. Mai 2010

John Grisham: Ford County


Es muss nicht immer ein Roman sein, wenn ein Buch ein hervorragendes Buch werden soll. Mancher Stoff taugt nur zur Kurzgeschichte oder Novelle, aber Kurzgeschichten verkaufen ist in der heutigen Verlagswelt sehr schwer bis unmöglich; deshalb versuchen manche Autoren leider, aus jeder Idee einen Roman zu machen, sei sie auch noch so mager. Ausnahmen bestätigen die Regel, so Stephen King mit seinen Stories und nun auch – endlich! – John Grisham.

Ford County, das sind sieben sehr unterschiedliche Geschichten, die durchweg gelungen sind. Die erste Erzählung fängt mit einem Gerücht an.
By the time the news of Bailey’s accident spread through the rural settlement of Box Hill, there were several versions of how it happened.
»Blood Drive« ist voller Ironie, die erbärmlichen Helden der Story sind so humorvoll und treffend gezeichnet, dass man fast den Biergestank zu riechen meint, der während der Fahrt zum Blutspenden für Bailey, der angeblich in Memphis im Krankenhaus dringend auf eine Transfusion wartet, zunehmend dichter wird.
Aggie and Calvin drank responsibly while Roger continued to gulp away. Wehn the first six-pack was gone, he announced, with perfect timing, “I need to take a leak. Pull over there at Cully’s Barbecue.” They were on the edge of the small town of New Grove, and Aggie was beginning to wonder how long the trip might take. Roger dissappered behind the store and relieved himself, then ducked inside and brought two more six-packs. When New Grove was behind them, they popped the tops and sped along a dark, narrow highway.
“Ya’ll ever been to the strip clubs in Memphis?” Roger asked.
Natürlich will ich hier nicht verraten, was auf der Reise nach Memphis und in der Stadt geschieht – aber es ist herrlich typisch für das Dorf- und Kleinstadtleben.

»Fetching Raymond« erzählt von den Illusionen, die manche arme Seele sich solange vorgaukelt, bis sie selbst es glaubt. Raymond erzählt Hinz und Kunz von den vielen erstklassigen Juristen, die Tag und Nacht darum kämpfen, ihn aus dem Gefängnis zu befreien.
“Got two dozen lawyers scramblin’ right now,” he said. “State can’t keep up with ‘em.”
“When do you hear somethin’ from the court?” Inez asked.
“Any minute now. I got federal judges in Jackson, in New Orleans, and in Washington sittin’ by, just ready to kick the state’s ass.”
Natürlich kostet so viel Rechtsbeistand Geld. Die verarmte Familie des Inhaftierten hat getan, was finanziell möglich war und ist nun auf dem Weg, ihn aus der Todeszelle zu holen. Allerdings anders, als der Leser zunächst erwartet.

»Fish Files« sind Akten, die stinken. Ein Kleinstadtanwalt hat genug davon, sich sein Leben lang mit solchem Kram herumzuplagen; als sich ihm eine Chance zum Ausbrechen bietet, nutzt er sie.
Mack was already tired of rationalizing his actions. He was screwing his clients and he knew it.
He was now a crook. Forging documents, hiding assets, swindling clients.
Grisham gelingt es vortrefflich, uns Leser auf die Seite Macks zu ziehen, wohl wissend, dass wir uns damit in die Illegalität begeben. Das macht uns nichts, wir empfinden heimliches Vergnügen.

Womöglich etwas zu vorhersehbar ist das, was in »Casino« vor sich geht, doch das hat keineswegs mein Lesevergnügen geschmälert. Da war wohl heimliche Schadenfreude dabei, weil die »Großkopferten«, die immer und routiniert die kleinen Leute reinlegen, ausgerechnet vom unscheinbaren Sidney– ach nein, ich will ja nicht den Inhalt verraten.

In »Michael’s Room« landet Stanley, der Held der nächsten Kurzgeschichte, nicht freiwillig. Auf dem Weg geschieht ihm Peinliches.
“You pissed on yourself,” Cranwell said. Stanley heard him, but barely. His ears were splitting, especially the right one. “You poor boy, all wet with piss.”
Nur so viel sei hier verraten: Wir gönnen es diesem Stanley von Herzen, dass ihm solches widerfährt. Denn was in Michaels Zimmer auf ihn wartet, hat er selbst zu verantworten.

Ganz herrlich genasführt und in die Irre gehen lassen hat mich Grisham mit »Quiet Haven«. Ich las und las und kam nicht dahinter, worauf es der Protagonist eigentlich abgesehen hat. Ich meinte jetzt weiß ichs, und ein paar Sätze später meinte ich nee, falsch, aber was denn dann? So macht Lektüre Spaß!

Der gelungene Abschluss dieser gelungenen Sammlung von Kurzgeschichten heißt »Funny Boy«. Mancher Kritiker hat John Grisham vorgeworfen, dass seine Bücher in den letzten Jahren »zu fromm« seien, dass sein christlicher Glaube zu deutlich würde. Nun weiß ich nicht, warum das Durchscheinen des Christentums einem Autor vorzuwerfen wäre, wenn das platte Verbreiten von atheistischen Überzeugungen bei anderen Autoren hoch gelobt wird, doch das sei hier dahingestellt. In »Funny Boy« jedenfalls zeigt sich, dass Grisham außerordentlich kritisch das typisch amerikanische Landchristentum zu beobachten weiß.
“There was this revival service at a church, white church, here in Clanton, one of those rowdy hellfire-and-briomstone affairs with people rolling in the aisles and fainting and the choir singing ‘Shall We Gather at the River’ at full throttle, and the preacher was at the altar begging and pleading for all sinners to come on down and surrender all. You get the picture.”
“Ever’ Sunday.”
“And I walked through the door, dressed in white, looking worse than I look now, and I started down the aisle toward the preacher. He had this look of terror on his face, couldn’t say a word. The choir stopped mid-stanza. Everyone froze as I kept walking down the aisle, which took a long time. Finally someone yelled, ‘It’s him! The guy with AIDS!’ Someone else yelled, ’Run!’ And all hell broke loose.”
Grishams Glaube macht ihn nicht blind für die Verlogenheit und Scheinheiligkeit in manchen Kirchen, die so von Erweckung und wunderbarem Segen Gottes voller Wohlergehen und Heilung begeistert sind, dass ein an Aids sterbender Homosexueller nicht in ihre Kirche passt.
»Funny Boy« ist nicht funny. Die Geschichte ist bitter, tragisch und sie macht mich wütend. Weil sie jeden Tag geschieht. Nicht nur in Amerika.

Mein Fazit: Für Grisham-Fans sowieso unverzichtbar, und für Leser, die mit seinen juristischen Romanen eher wenig anfangen könne, wäre dies eine Gelegenheit, einen »anderen« John Grisham kennen zu lernen. Durchweg spannende und unterhaltsame Lesestunden sind bei diesem Buch garantiert.

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P.S.: Dieser Hinweis soll nicht fehlen: Gelesen habe ich das Original, kann daher zur deutschen Übersetzung nichts anmerken. Soweit ich das überblicke, gibt es das Buch aber bisher sowieso nicht auf Deutsch.