Samstag, 12. Juni 2010

Gastbeitrag Roland Walter: Du bist Du

Der Autor: Roland WalterDie 19jährige Ute liegt auf dem Bett und zählt die Regentropfen, die an die Fensterscheibe klopfen. Eins, zwei, drei, vier. Ute kann nicht weiterzählen, ihre Gedanken haben sie wieder eingeholt. Sie muß an ihren Bruder denken, den sie gestern  zu Grabe getragen haben. Warum mußte Robert sterben? Er war doch mit seinen 16 Jahren noch viel zu jung. Es ist doch noch lange kein Grund, sterben zu müssen, nur weil Robert von Geburt an schwerbehindert war. Er konnte weder sitzen, laufen, sprechen, noch hören. Auch bewegen konnte er sich kaum. Robert brauchte für alles, ja für alles fremde Hilfe. Aber das ist doch noch lange kein Grund, sterben zu müssen. Ute findet keine Antwort und beginnt erneut die Regentropfen zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Wieder rasen die Gedanken durch ihren Kopf. Conni, ihre Nachbarin, meinte heute morgen: "Es ist zwar traurig, daß Robert gestorben ist, aber für ihn hatte ja das Leben sowieso keinen Sinn. Und für Euch war es nur eine Belastung". Wie kann diese Frau  so etwas  sagen? Wir  haben  doch Robert aus Liebe betreut  und  haben diese Tätigkeit nie als Arbeit betrachtet. Ute wird wütend. Die Gedanken kreisen langsamer und Ute erinnert sich an eine unvergessene Begegnung mit Robert:

Es war ein kalter, regnerischer Herbsttag. Bei der Bioarbeit hatte der Lehrer blöde Fragen gestellt. Auch bei der Mathearbeit  kamen doofe Aufgaben vor. Sogar in der Sportstunde versagte Ute laufend. Heute ist alles Scheiße, dachte Ute, und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Und auf dem langen Heimweg blies ihr der kalte Wind den Regen ins Gesicht. Völlig erschöpft und  mit kaltem Herzen kam Ute zu Hause an. Als sie die Stubentür öffnete, lag Robert auf dem Sofa. Er bemerkte sofort, daß seine Schwester heute einen schlechten Tag hat. Deshalb versuchte Robert mit aller Kraft, Ute mit seinen sonnenklaren Augen einzufangen. Als er seine Schwester  mit seinem Blick  gefesselt hatte, lachte er sie aus tiefstem Herzen an. Roberts strahlendes Gesicht und seine leuchtenden  Augen tauten in sekundenschnelle ihr vereistes Herz auf. Ute hatte plötzlich allen Kummer vergessen und war wieder fröhlich. Dafür nahm sie ihren Bruder ganz lieb in den Arm.

Ute ist nun innerlich  beruhigt und zählt wieder die Regentropfen. Eins, zwei, drei, vier. Und diese Geschichte, denkt Ute, werde ich morgen meiner  Nachbarin erzählen, um ihr deutlich zu rnachen, daß jeder Mensch eine besondere Fähigkeit hat. lch werde Conni sagen, daß es nicht darauf ankommt, was der Mensch nicht kann, sondern was er kann. Robert war nicht behindert, sondern hatte die wunderbare Gabe, anderen Menschen Freude zu schenken.
Ute dreht sich zur Seite und versucht zu schlafen.

Quelle: RolandWalter.de