Dienstag, 13. Juli 2010

Der Garten des Teufels – Teil 1

Wenn ein Mensch im Traum durch das Paradies gehen könnte,
und das Geschenk einer Blume wäre ein Unterpfand dafür, dass seine Seele wirklich dort war,
und wenn er beim Erwachen diese Blume in der Hand halten würde ... dann wahrlich! ... ja, was dann?
-Samuel Taylor Coleridge: Anima Poetae

And you can send me dead flowers every morning
Send me dead flowers by the mail
Send me dead flowers to my wedding
And I won’t forget to put roses on your grave
-The Rolling Stones: Dead Flowers

Das Unterpfand

Verwelkt, zerdrückt, keine Schönheit mehr, aber dennoch ein Gegenstand höchsten Wertes. Nein, kein Gegenstand, das war der falsche Ausdruck. Ein Lebewesen, das zum Sterben verurteilt war, abgetrennt von den Leben spendenden Wurzeln.

Renate betrachtete, was von der filigranen Blüte und dem zarten Stängel übriggeblieben war. Sie wagte kaum zu atmen, um dem Gewächs nicht noch mehr Schaden zuzufügen.

Die Blütenblätter waren so dünn, dass man hindurchsehen konnte. Ein elfenbeinfarbenes Gewebe, im Licht der frühen Sonne schimmernd wie Seide. Eine einzige Blüte, auf einem Halm, den spiralförmig feingefächerte Blätter umgaben, die von einem tiefen Grün zu den Spitzen hin in ein wohltuendes Blau überblendeten. Selbst jetzt, in diesem erbärmlichen Zustand, war die Blume noch schöner als alles, was Renate bisher an schmückenden Gewächsen gesehen hatte. Und sie hatte viele gesehen, ging sie doch täglich in ihrem Fachgeschäft für Floristik mit der Flora in ihren schönsten Formen um.

Sie legte das kostbare Unterpfand vorsichtig auf dem Nachttisch ab und schloss wieder die Augen. Peter hatte ihr die Blume geschenkt. Sie wollte zurück zu Peter und wusste um die Torheit dieses Wunsches.

Bild von sxc.huDie Ananasblüte

Zehn Jahre zuvor hatte ein merkwürdiger Mann ihren Weg gekreuzt. Männer waren ihre Hauptkundschaft, das Geschäft lag nahe am Bahnhof, unzählige Geschäftsreisende ließen ein Taxi draußen warten, um bei der Heimkehr zu ihrer Familie, Frau oder Freundin einen Blumengruß präsentieren zu können. Andere kamen auf dem Weg zum Bahnhof in das Geschäft, denn mit einer Rose in der Hand ist der Mann gut ausgestattet, wenn die Geliebte aus dem Zug steigt. Es kamen auch Frauen, die für ihr Heim oder den Besuch bei Verwandten und Bekannten ein dekoratives Geschenk suchten, aber die männliche Kundschaft überwog. Renate war stolz darauf, dass ihre Kunden, Herren oder Damen, stets zufrieden waren. Sie verkaufte nicht einfach lustlos zusammengebundene Sträuße; bei ihr bekam man das Ausgefallene, das man in den beiden Läden direkt im Bahnhof und auch sonst in der Stadt vergeblich suchte. Kunstwerke aus natürlichen Materialien, von der Rinde einer knorrigen Eiche bis zur winzigsten Kakteenblüte – Renate verarbeitete zu Unikaten, was immer sie im Großmarkt und in der Natur finden konnte.

Wollte ein schüchterner und nicht allzu bemittelter junger Mann eine einzelne Rose für die Dame seines Herzens, dann bekam er für fünf Euro eine Rose, langstielig, frisch. Doch nicht nur die Rose gab sie dann dem Liebenden, um den Stiel wand sich ein hauchdünner Halm mit herzförmigen winzigen Blättern. Sie hatte diese Pflanze, die sie in keinem Lexikon der Botanik finden konnte, einst in Nicaragua entdeckt und züchtete das Liebesgras, wie sie es getauft hatte, seither in ihrem geräumigen Gewächshaus. Dort gab es noch zahlreiche andere Züchtungen und Pflanzen, die sonst nirgends zu finden waren. Natürlich hütete sie ihre Geheimnisse mit starken Schlössern, einer Alarmanlage und ihrem Mozart, einem kräftigen und als Wächter ausgebildeten Schäferhund.

An jenem Morgen vor zehn Jahren war ein Herr mittleren Alters durch die Türe getreten, einen Aktenkoffer in der einen, den Hut in der anderen Hand. Die elektrische Tür schloss sich hinter ihm und er betrachtete anerkennend die ausgestellten Kunstwerke. Renate ließ ihm Zeit, sich umzusehen, beobachtete, wie sein Blick an einer Komposition aus Ananasblüte, verschiedenen Gräsern und einer Fontäne aus fein geschnittener Birkenrinde hängenblieb und wusste, dass der Kunde gleich nach dem Preis fragen würde.

»Guten Morgen«, begann er, »ich suche ein Geschenk.«

Freundlich lächelnd erkundigte sich Renate: »Für eine Dame?«

»Ja und nein, aber sagen wir ruhig, es sei für eine Dame.«

Renate nahm die Antwort gelassen entgegen. Sie schätzte, dass der Kunde etwa fünfzig Euro ausgeben wollte, und zeigte ihm einige Arrangements für fünfundsiebzig Euro.

»Dies hier«, erklärte sie, »ist eine tropische Orchidee, die Blüte wird sich heute Nachmittag öffnen, umgeben von Schößlingen eines seltenen griechischen Beerengewächses, gepflanzt in Erde aus Malaysia. Selbstverständlich bekommen Sie bei mir immer die notwendigen Düngemittel, Erden und Gefäße, damit sie viele Jahre Freude an den Pflanzen haben, und selbstverständlich erkläre ich meinen Kunden sehr genau, wo die Pflanze stehen muss, wie sie zu behandeln ist.«

»Ich weiß, deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen.«

Sie nickte selbstsicher. Seit fünf Jahren führte sie das Geschäft, hatte nie Werbung gemacht außer den Auslagen in ihrem Fenster. Zufriedene Kunden waren und blieben die beste Investition. Die meisten Käufer kamen nicht per Zufall in ihr Geschäft, sondern auf Empfehlung oder als Stammkundschaft.

»Schnittblumen habe ich natürlich auch«, meinte sie lächelnd.

»Diese Ananasblüte dort, was würde die kosten?«

Aha, sie hatte richtig getippt. Der Mann wollte diese Blüte und nichts anderes. Und er würde sie bekommen.

Renate öffnete die Glasvitrine und stellte das Gesteck behutsam auf den Verkaufstisch. »Dies ist etwas ganz Besonderes, allerdings eine Schnittblüte, das heißt, dass sie nach etwa zwei Wochen ihre Schönheit verlieren wird. Diese Ananas werden von mir selbst gezüchtet, die Farbschattierungen, die sie hier sehen, finden Sie nirgends sonst.«

»Sie ist wunderschön.«

»Ja, das ist sie. An einem schattigen Ort, nicht zu heiß, hält sie sich bei entsprechender Pflege etwa zwei, vielleicht sogar drei Wochen.«

»Und was kostet sie nun?«

»Wie viel wäre sie Ihnen denn wert?«

Renate hatte keine Preisschilder in ihrem Geschäft. Der Kunde bestimmte den Wert der Ware, und selten versuchte jemand, etwas billig zu bekommen. Solche Leute blieben in der Regel draußen vor der Türe.

Der Mann hob den Blick von der Blüte und sah Renate forschend an. »Ich würde meinen, dass fünfzig Euro angemessen wären.«

»Da stimme ich Ihnen zu.«

»Das Problem ist nur, dass ich kein Geld bei mir habe.«

Renate erklärte freundlich: »Visa, Eurocard, American Express und EC-Karten sind willkommen.«

Der Kunde legte lächelnd seinen Aktenkoffer auf den Verkaufstisch, öffnete den Deckel und drehte den Koffer zu Renate herum. »Wie wäre es damit als Gegenwert zu Ihrer Blüte?«

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Fortsetzung folgt