Mittwoch, 15. September 2010

Neuland – Teil 6

Herzlich willkommen, lieber Stammgast und regelmäßiger Leser. Es geht gleich weiter mit der wunderlichen Geschichte von Fritz Wegemann, auch bekannt als Anron. Doch zuvor sei für diejenigen, die neu dazu stoßen oder sich nicht recht erinnern, dem Wunsch einer hochgeschätzten Stammleserin gemäß, auf die bereits erschienenen Teile verwiesen. Bittesehr: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5]

So. Nun aber. Auf geht’s.

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Der Traum

Am Abend des nächsten Tages verabschiedete sich Yondil von ihnen. Er erklärte, dass sie in der bisherigen Richtung auf die Berge zu weiterwandern sollten, zu gegebener Zeit würden sie einen anderen Führer haben, er selbst müsse nun zurückkehren zu seinem Wald.

Anron und Bersan bedankten sich für alle Hilfe, Auskünfte und seine Freundlichkeit. Sie wären gerne weiter mit ihm gewandert, aber sie begannen, sich an die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt zu gewöhnen und selbst zurechtzufinden. Man musste einiges einfach akzeptieren, ohne lange nach dem Grund zu fragen. Man konnte getrost davon ausgehen, dass alles seinen Sinn hatte und gut war. Anron dachte an ein Lied von Van Morrison aus jener vergangenen Welt. It ain’t why why why why why, it just is hieß es darin.

Yondil winkte ihnen noch einmal zu und wanderte dann der untergehenden Sonne entgegen. Die beiden Männer sahen ihm lange nach. Sie hatten sich an sein merkwürdiges Äußeres, an seine überlange Körpergröße, gewöhnt, sie hatten ihn als zuverlässigen und sorgenden Begleiter geschätzt, der ihnen die ersten Schritte in dieses neue Leben leicht gemacht hatte.

Yondil hatte geduldig ihre Fragen beantwortet, aber vieles hatten sie dennoch nicht begriffen. Manche Antworten, die er gegeben hatte, brachten keine Klarheit. Weil sie noch zu sehr in ihrer vergangenen Welt verhaftet waren? Sie dachten noch immer in Begriffen wie Tagen, Stunden, Minuten, obwohl die Zeit hier keine wichtige Rolle zu spielen schien. Weil sie immer nach einem Grund für etwas suchten, nach Gesetzmäßigkeiten, Regeln? Womöglich, nein sicher gab es hier solche Dinge, aber sie blieben einstweilen zum Teil unverständlich.

Auf eine Frage, die Anron am letzten Nachmittag mit Yondil gestellt hatte, gab es jedoch keine Antwort: »Warum wir? Fritz Wegemann alias Anron und Robert Stock alias Bersan. Warum sind wir übrig geblieben? Durch jenes Tor gegangen? Von Milliarden Menschen ausgerechnet wir?«

Yondil hatte die Frage wohl erwartet, denn er entgegnete ohne Zögern: »Es obliegt mir nicht, das zu wissen. Ihr beide und die beiden Frauen seid hier angekommen, das weiß ich. Vier Menschen. Ich frage nicht nach dem Warum.«

Als die Sonne unterging, legten sie sich in einem kleinen Birkenhain zum Schlafen nieder. Sie hatten für die Abendmahlzeit Früchte gesammelt, Wasser gab es genügend an einem munter sprudelnden Bach. Sie schliefen schnell ein, und Anron träumte zum ersten Mal in seinem neuen Leben einen Traum, der ihn beunruhigte.

Kein Weg ist zu sehen.Er hatte sich in einer endlosen Wüste befunden, nicht vergleichbar mit der paradiesischen grünen Welt, in der sie gelandet waren. Er blieb ihm rätselhaft, was der Traum bedeuten sollte, falls er überhaupt eine Bedeutung hatte. Da er sich sonst nie an Geträumtes erinnert hatte, weder in diesem noch in jenem Leben, vermutete er, dass es nicht verkehrt sein konnte, sich Gedanken darüber zu machen.

Wie hatte sein Traum begonnen? Richtig, er fühlte sich müde und erschöpft. Seine Kräfte schwanden. Die gleißende Sommersonne brannte unbarmherzig auf ihn herab, der weiße Staub der unendlichen Wüste hatte, vermischt mit seinem Schweiß, eine schmerzende Kruste auf der Haut gebildet. Seine Augen brannten von der Anstrengung, in der schattenlosen Helligkeit einem Weg zu folgen, von dem er nichts wusste. Er suchte. Aber wonach er suchte, das war ihm nicht klar.

War er vom Weg abgekommen, ohne es zu bemerken? Nein, der Weg war richtig. Er spürte, dass er auf dem Weg war. Es gab allerdings keinen Weg, keinen Pfad, keine Spur. In dieser menschenfeindlichen Landschaft gab es nur Sonne, Sand und Staub.

»Ich wüsste gerne, wie lange es noch so weitergeht«, teilte er der Stille der leblosen Wüste mit. Kein Tropfen Wasser war in Sicht, weit und breit gab es nichts, was ihm hätte Schatten spenden können. Schlimmer als der drängende Durst war jedoch die Ungewissheit, wohin er eigentlich ging. War er in diese Einöde gekommen, um zu sterben? Etwas zu finden? Jemanden zu treffen?

Er schloss die Augen vor der stechenden Glut der Sonne und stolperte blind weiter. Was machte es noch aus, ob er den rieselnden Sand und die flimmernden Hitzewellen sah oder nicht. Welche Rolle spielte es am Ende seiner Kräfte, ob er im Kreis ging oder geradeaus? Er verdurstete und kannte das Ziel ohnehin nicht. Der Sand verbrannte seine Fußsohlen. Wahrscheinlich gab es gar kein Ziel. Entkräftet sank er in den heißen Staub, die verklebten Augen blieben geschlossen. Sein ausgedörrter Mund atmete kleine Staubwölkchen, es war totenstill.

Dann fiel ein Schatten auf ihn. Mühsam öffnete er die Augen und sah in ein fremdes Gesicht. Ein freundliches Gesicht, ein wettergegerbtes Cowboygesicht wie aus einem alten Western. Der Mann streckte ihm eine Feldflasche entgegen und sagte: »Trink. So viel du willst.«

Als er nach der Flasche greifen wollte, war er plötzlich von Eiseskälte umgeben und durchdrungen. Er wollte etwas sagen, und dann –

– wachte er auf.

Neben ihm schlief Bersan, tief und friedlich. Anron zitterte vor Kälte. Er brauchte eine Weile, bis ihm wieder warm wurde. Er war sich zunächst nicht einmal sicher, ob er noch träumte oder wach war.

Dann lag er neben seinem schlafenden Freund und überlegte, was der Traum bedeuten mochte. Träume sind Schäume, nomen est omen, ging es ihm durch den Sinn. Sinnlose Gedanken, womöglich aus einem anderen Leben.

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Fortsetzung folgt.