Mittwoch, 17. November 2010

Stephen King: Full Dark, No Stars

Natürlich ist es töricht, beim Lesen eines Buches den Autor zu bedrohen: »Don’t you dare to hurt Tess any more! She has suffered enough!« Dennoch habe ich genau das (am 16. November via Facebook) getan, wohl wissend, dass die Zeilen darüber, was Tess noch erwarten würde, längst geschrieben und gedruckt waren.

Wenn die Personen so lebendig werden, dass der Leser mit ihnen fühlt, leidet, lacht, hofft und verzweifelt, dann hat man ein gutes Buch in der Hand. Wenn man wütend wird, weil das Leben im Buch so unfair ist wie das wirkliche Leben sich gelegentlich präsentiert, wenn man aufatmet, weil ein drohendes Unheil gerade noch einmal abgewendet werden kann, dann hat der Autor geschafft, was er wollte. Kaum einem gelingt das so perfekt wie Stephen King.

»Full Dark, No Stars« hat mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt, mit allen vier Geschichten, die Stephen King erzählt. »The stories in this book are harsh«, schreibt er im Nachwort, »you may have found them hard to read in places«. So ist es, kann ich da nur antworten. Der Knoten im Hals hat es mir bewiesen, und es hätte gelegentlich nicht viel gefehlt, dass auch noch feuchte Augen dazugekommen wären. »If so, be assured that I found them equally hard to write in places« - das glaube ich gerne. Denn man merkt es der Lektüre nicht an, wie viel harte Arbeit darin steckt, und genau das ist es, was Stephen King zu einem Meister unter den Erzählern macht.

Die treuen Leser, die der Autor wie stets als seine »Constant Readers« anspricht, werden dieses Buch sowieso lesen und sich wie ich über so manche kleinen Reminiszenzen an frühere Werke freuen, vom »assume makes an ass out of you AND me« über eine Clown-Fratze in Derry und den Schauplatz Hemmingford Home bis zum »Long days and pleasant nights« als Gruß. Das kennen wir, da schmunzeln wir. So soll es sein.

Denen, die nicht zu den Stammlesern gehören, weil sie vielleicht irgendwann mal gehört haben, Stephen King schriebe Fantasy-Horror (oder weil sie eines seiner frühen Werke gelesen haben), sei dieses Buch als Gegenmittel zum Vorurteil empfohlen, vorausgesetzt sie sind bereit, dem Horror des Lebens im ganz normalen amerikanischen Alltag in die Augen zu blicken. Das kann schlimmer sein als der Schrecken in einer Fantasy-Welt.

Für schwache Nerven und empfindliche Gemüter sind diese vier Geschichten sicher nicht geeignet, denn Stephen King nimmt wie üblich eine starke Taschenlampe mit in den finsteren Keller der menschlichen Abgründe: »If you’re going into a very dark place then you should take a bright light and shine it on everything. If you don’t want to see, why in God’s name would you dare the dark at all?«

Eben.