Dienstag, 28. Dezember 2010

Jessika – ein Verhängnis /// Teil 4

Zunächst, die regelmäßigen Besucher dieses Blogs erwarten das bereits, der Hinweis auf die vorangegangenen Folgen dieser Erzählung: [Teil 1] /// [Teil 2] /// [Teil 3]

Die geschätzten Leser haben mal wieder mit ihrer Abstimmung für einen Fortgang gesorgt, den ich nicht beabsichtigt hatte. Ich wollte Jessika so schnell wie möglich in Berlin haben. Aber gut – Spielregeln sind nun mal Spielregeln. Und was nun im Zug passiert, damit Jessika nicht einfach so abfliegen kann, gefällt mir sogar recht gut. Bittesehr:

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Im Abteil, Jessika gegenüber, saß eine Familie, Vater, Mutter, Tochter. Das Mädchen mochte fünf Jahre alt sein. Sie war zappelig, ungeduldig, typisch Kind eben. Stillsitzen war ihr fremd und unangenehm.

Die Eltern waren bemüht, die kleine Violetta im Zaum zu halten. Das gestaltete sich jedoch ziemlich schwierig. Sie ließ sich nur wenige Minuten bändigen, sei es mit Süßigkeiten, sei es mit Comic-Heften oder Versprechungen, was sie alles bekommen und erleben würde, wenn sie nur obediente und buona wäre. »Che palle!«, rief Violetta, als ihr gutmütiger Vater ihr zum dritten mal das gleiche Mickey-Mouse-Heft vorlesen wollte. Sie forderte vehement, dass andare a passeggio eine gute Idee wäre, und zwar zur Spitze des Zuges, dann bis zum Ende und dann vielleicht auch zurück zum Abteil.

Violetta ist abenteuerlustigJessika versuchte, zu lesen. Das Buch, Therapie von Sebastian Fitzek, war spannend genug, um es nicht aus der Hand legen zu wollen Das Quengeln und Jammern jedoch machte es unmöglich, sich zu konzentrieren. Schließlich sprach sie die kleine Violetta an: »Ti va di venire a la locomotiva?«

Wie dankbar doch beide Eltern aufatmeten, dass die Mitreisende keine Beschwerden vorbrachte, sondern sogar bereit war, das Kind einige Minuten abzulenken. Sie hatten Jessika bereits mehrfach wortreich erklärt, dass der Vater kaum laufen konnte, er habe sich bei einem incidente eine Verletzung der Wirbelsäule zugezogen, die zwar heilen würde, aber das brauche seine Zeit. Sein linker Fuß sei nahezu gefühllos. Die Familie war auf dem Weg nach Rom, um dort ein Fahrzeug mit automatischem Getriebe abzuholen, damit der Verletzte wieder Auto fahren konnte. Sie lebten auf einem kleinen Dorf bei Parma, es gab dort weder Bus noch Bahn, so dass der Vater nicht zur Arbeit kommen konnte. Er hatte – grazie a Dio! – einen Bürojob, aber zur Arbeit und zurück musste er eben irgendwie fahren können.

Jessika nahm nun die begeisterte Violetta an die Hand und machte sich mit ihr auf den Weg durch den Zug nach vorne. Die Wagen waren gut besetzt, einige Fahrgäste standen im Gang an den Fenstern und genossen den Fahrtwind, der hereinströmte. Bei den modernen Zügen konnte man ja keine Fenster mehr öffnen und war auf Gedeih und Verderb der Klimaanlage ausgeliefert, aber dieser Zug bestand noch aus den guten alten Abteilwagen, die Fenster konnten herunter geschoben werden. An der Zugspitze angekommen öffnete Jessika ein Fenster und streckte den Kopf hinaus, um festzustellen, ob die Lokomotive sichtbar war. Dann nahm sie die kleine Violetta auf den Arm und ließ sie hinausschauen. Begeistert schilderte das Mädchen den Anblick, der sich ihr bot, vergnügt ließ sie sich die Haare ordentlich durchpusten. Sie lehnte sich immer weiter hinaus, schließlich zog Jessika sie wieder herein und schloss das Fenster.

Violetta protestierte, aber Jessika konnte sie davon überzeugen, dass auch der Ausblick am Ende des Zuges interessant sein musste. Man könne dort die Schienen in der Ferne verschwinden sehen, es würde sich so anfühlen, als fliege man durch die Landschaft. Sie spazierten durch die Gänge und am Ende des letzten Waggons waren ovale Fenster, durch die man eine gute Aussicht hatte. Eine Weile betrachteten sie das in der Sonne glitzernde Band der silbernen Schienen, die vorbeiflitzenden Masten der Stromleitung, die Momentaufnahmen von Dörfern und Feldern.

Zurück im Abteil erzählte das Mädchen seinen Eltern begeistert, was alles zu sehen gewesen war auf dem Ausflug. Jessika lehnte sich in ihren Sitz und schloss die Augen, um ein wenig auszuruhen. Viel Schlaf hatte sie in letzter Zeit nicht gefunden.

Als sie etwa 20 Minuten später wieder aufwachte, war es still im Abteil. Die beiden Eltern schlummerten, Violetta war nicht zu sehen. Vermutlich war sie zur Toilette gegangen. Jessika nahm ihr Buch zur Hand und wollte weiterlesen, aber es gelang ihr nicht. Das Kind ist in Gefahr. Du musst nachsehen. Du musst JETZT nachsehen.

Sie stand auf, nahm ihre Handtasche mit und öffnete die Schiebetür des Abteils. Der Gang in ihrem Waggon war leer. Jessika schloss die Türe hinter sich und ging nach vorne zur nächsten Toilette. Die war leer. Keine Spur von Violetta. Sollte sie die Eltern wecken und fragen, wo das Mädchen war? Womöglich unnötige Aufregung verursachen?

Du hast nicht mehr viel Zeit. Du kannst ein Leben retten, statt eines zu nehmen. »Das ist nicht meine Art«, murmelte Jessika, aber sie machte sich auf den Weg nach vorne zur Zugspitze. Sie wusste nicht, was sie erwartete, aber immerhin hatte sie ihre Beretta bei sich. Als sie im vordersten Wagen ankam, sah sie die untere Hälfte von Violetta. Das Kind hatte es irgendwie geschafft, sich am Fenster hochzuziehen und hing mit dem Oberkörper im Freien, die Beine baumelten ohne festen Halt in den Gang. Jessika eilte nach vorne. Eine Frau kam aus einem Abteil, sah das Mädchen und begann zu kreischen. »Mama mia! Aiuto!«

Jessika stürmte an ihr vorbei, ließ die Handtasche fallen und griff nach den Beinen des Kindes, die gerade auf dem Weg nach draußen waren. Vermutlich durch das Geschrei erschreckt hatte Violetta die prekäre Balance verloren und drohte, aus dem Fenster zu fallen. Jessika hielt die Beine fest, aber es war ihr nicht möglich, den Körper wieder in den Zug zu ziehen, der Winkel zum Fenster war zu hoch. Jessika spürte, dass ihre Hände auf der nackten Haut der Beine keinen festen Halt fanden. Das Kind rutschte ihr davon, Violettas Kopf prallte von außen gegen die Scheibe.

Zwei kräftige Männerarme erschienen neben ihr, die Hände griffen um die Hüften des Kindes und gemeinsam mit Jessikas Anstrengung zogen sie das Kind wieder in den Wagen. Die hysterische Frau schrie immer noch, der Gang hatte sich mit Menschen gefüllt. Irgend jemand kam auf die glorreiche Idee, die Notbremse zu ziehen, als das Mädchen schon wieder im Wagen war. Die Bremsen griffen, der Zug wurde abrupt abgebremst, so stark, dass Jessika, die Violetta fest in den Armen hielt, das Gleichgewicht verlor und im Gang hinfiel. Der Mann, der zu Hilfe geeilt war, stürzte ebenfalls und kam neben den beiden zum Liegen.

Es herrschte ein ziemliches Durcheinander, als der Zug zum Stehen kam. Stimmen riefen dieses oder jenes, in den Abteilen waren Gepäckstücke aus den Netzen gefallen, Jessika hielt das schluchzende Mädchen fest an sich gepresst und blieb noch einen Moment liegen. Der Mann neben ihnen rappelte sich auf und reichte Jessika die Hand, um ihr auf die Beine zu helfen.

»Bravo, bravissimo«, sagte er, »ultimo secondo!«

Jessika hatte sich wieder unter Kontrolle. Alles was sie in diesem Zug wollte, war unauffällig zu verschwinden. Nun stand sie im Mittelpunkt einer aufgeregten Menschenmenge, ein an der Stirn blutendes fremdes Mädchen schmiegte sich verängstigt an sie und der Zug stand still, was dazu führen würde, dass die Zugbegleiter und damit die Behörden sich der Sache annehmen würden.

Das hast du nun davon, dich einzumischen, du steckst ziemlich in der Scheiße, Jessilein. Aber sie hatte eigentlich keine Wahl gehabt. So wenig wie das Beenden diverser Leben war dieses Retten eines jungen Lebens etwas, was sie sich ausgesucht hatte. Fein gemacht, Jessilein. Wie kommst du jetzt raus aus der Zwickmühle?

Sie sah sich nach ihrer Handtasche um. Die war durch die Vollbremsung des Zuges einige Meter nach vorne gerutscht. Und sie war offen. Die Beretta war halb herausgerutscht, ihr deutscher Reisepass lag daneben, ein Lippenstift war noch ein Stück weiter gekullert. Gerade bückte sich der Held, der Violetta mit ihr zusammen in den Zug zurück gezogen hatte, nach der Handtasche. Er betrachtete die Waffe, zuckte mit den Schultern, schob sie in die Tasche zurück, sammelte den Lippenstift auf, ließ ihn in die Tasche fallen und behielt den Reisepass in der Hand. Er schaute Jessika an: »Gehört das Ihnen?« fragte er.

Zwei uniformierte Bahnbedienstete kamen in den Wagen und wollten wissen, wer die Notbremse gezogen hatte. Hinter ihnen erschien Violettas Mutter, bleich und mit ängstlichen Augen. Als sie ihr blutendes Kind sah, schrie sie auf und stürmte durch den Gang. Sie riss ihre Tochter an sich und der Mann fragte Jessika erneut: »Gehört das Ihnen?«

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So, liebe Leser. Was nun? Ich könnte ja jetzt verraten, wie ich mir den Fortgang wünsche, aber ich enthalte mich jeden Kommentares und ersuche die geschätzten Blogbesucher um deren Meinung. Die ABstimmung läuft bis zum 2. Januar, dann sehe ich bestimmt anhand der Ergebnisse, wie ihr euch die Fortsetzung vorstellt.

Kommt Jessika ohne Komplikationen aus dem Tumult heraus?
Ja, sie kann entwischen.
Nein, sie wird als Heldin gefeiert.
Ja, aber nur mit fremder Hilfe.
Auswertung