Dienstag, 5. Juli 2011

Dylan Morrison: Fluss und Eimer

Vor langer Zeit reiste eine Menschengruppe auf einem Floß einen mächtigen Strom hinunter, der sich durch abwechslungsreiche und faszinierende Landschaften schlängelte. Da mochte man gerade durch ziemlich ruhiges Wasser gefahren sein, Minuten später konnte ein Wasserfall zum lebensgefährlichen Abenteuer werden. Was die Reisenden begeisterte, war das Empfinden, der Fluss sei ein lebendiges Wesen, voller Bewegung, sein Verhalten unvorhersehbar. Während die Menschen auf dem Fluß unterwegs waren, regelmäßig auch Strudel überwanden, fielen ihnen Fische auf, die neben dem Floß schwammen, die warme Luft trug anmutige Lieder von Vögeln zu ihnen herüber.

Wann immer die Reisenden versuchten, das Floß zu lenken, landeten sie am Ufer, klatschnass. Die einzige Möglichkeit, wirklich voranzukommen, bestand darin, sich dem Floß anzuvertrauen, während die ungezähmten Wasser des Flusses die Richtung bestimmten. Das Ziel der Reise war eine Stadt an der fernen Flußmündung, berühmt für ihr Gold. Sie sollte dort liegen, wo der große Strom mit dem Meer eins wurde.

Nach ein paar Tagen beschlossen jedoch ein oder zwei Mitglieder der »Besatzung«, dass es ihnen reichte. Die Flussufer mit ihrer reichhaltigen Vegetation luden verlockend zu einer Ruhepause ein. Schließlich stimmte man über den Vorschlag ab und die Entscheidung stand fest. Das Floß wurde in eine kleine, ruhige Bucht am Ufer manövriert und ein Lager für die Nacht aufgeschlagen. Die Menschen wussten, dass Wasser lebensnotwendig war, daher gingen einige, als das Lager fertig hergerichtet war, mit ein paar alten, rostigen Eimern zur Böschung, um etwas von dem kristallklaren Wasser zu schöpfen. Die Flussfahrt war anstrengend gewesen, nun konnte man ausruhen, die Eimer waren ein perfektes Behältnis für das kostbare Flusswasser.

Am nächsten Morgen, nach einem erholsamen Schlaf, beschlossen die Reisenden, bezaubert von der wunderbaren Landschaft und den Geräuschen der Umgebung, noch einen Tag am Ufer zu verharren. Das Wasser für den Tag wurde in den rostigen Eimern vom Fluss geholt, die Gefäße bekamen nun einen Ehrenplatz im Lager. Ein paar Tage später schlug jemand vor, sich am Rand des Flusses endgültig niederzulassen und eine schlichte Siedlung zu bauen. So konnte man das Beste aus beiden Welten, den Fluss und die Landschaft, vereinen! Diese innovative Idee wurde von den Reisenden mit ganzem Herzen und einstimmig aufgegriffen. Man blieb ja schließlich nah am Fluss und konnte jederzeit sein lebendig dahineilendes Wasser erreichen.

Nach einem Monat hatten sich die Floßreisenden in Siedler verwandelt. Sie genossen die reichhaltigen Früchte, die am Ufer gediehen. Eines Abends schlug jemand vor, für die Eimer einen besonderen Ort zu schaffen, wegen ihrer Bedeutung im Leben der Gemeinschaft, während sie noch in den Kinderschuhen steckte. Das alte Floß wurde Planke für Planke zerlegt und das von den Abenteuern der Flussreise gezeichnete Holz für seine neue Nutzung vorbereitet.

Mit großem Eifer begannen die Siedler am nächsten Morgen ihr neues Projekt. Am Ende des Tages war ein kleines, verziertes Gebäude entstanden, die frisch gefüllten Eimer standen auf einem vergoldeten Altar, so dass jedermann ihnen Ehre erweisen konnte. Bis nach Mitternacht wurde ausgelassen das neue Heiligtum gefeiert, die feierliche Wohnstatt für die »geliebten« Eimer, die segensreichen Behältnisse der täglichen Wasserversorgung.

Der Hüter der Eimer wachte am nächsten Vormittag spät auf und nahm gleich die Behälter von ihrem heiligen Ort. Er ging begeistert hinunter zum Fluss, um Wasser zu schöpfen, seine tägliche ehrenvolle Aufgabe. Welch ein Schreck erwartete ihn! Vor ihm lag nur das trockene Flussbett. Kein Tropfen Wasser war in Sicht. Der Fluss hatte in der Nacht seinen Verlauf geändert, er strömte nun durch eine entfernte Gegend, in der sich eine Reihe anderer Reisender bereit machte, auf dem Fluss zur goldenen Stadt zu fahren. Während der erschütterte Hüter der Eimer seine leeren Gefäße genau betrachtete, stieg ihm deren fauliger Geruch in die Nase. Eine kleine Träne lief an seiner Wange hinunter. Verlorenes Paradies!

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Übersetzt aus dem Englischen mit freundlicher Genehmigung des Autors Dylan Morrison.

Sehr empfehlenswert (ich habe bereits die ersten Kapitel gelesen) ist auch sein Buch The Prodigal Prophet