Samstag, 7. April 2012

Aufzeichnungen nach dem Krankenhaus /// Teil 3

Aktuelles in Kürze: Ab heute der nächste Schritt beim »Ausschleichen« des Morphin (Ärztedeutsch für langsam abgewöhnen). 40 mg täglich statt 50. Ab nächsten Samstag dann 30 mg täglich … in drei Wochen sollte ich also wieder clean sein. Fein.

So, nun zurück ins Krankenhaus zu den Tagen vor der Operation.

… auf eine ziemlich unappetitliche, aber außerordentlich erfolgreiche Weise …

Der Arztbericht formuliert nüchtern:

Unter regelmäßigem Anspülen der Entlastungssonde konnte Herr Matthia mehrere Liter Stuhl absetzen, sodass er aus dem Ileuszustand rekompensierte und am 19. 03. auf die Normalstation zurückverlegt werden konnte.

Die Verlegung fand gegen Mittag statt, ich kam in ein Zimmer mit drei Betten, am Fenster lag ein Patient, der schon seit einigen Tagen operiert war und aufstehen konnte, in der Mitte ein kaum jemals das Bewusstsein erlangender Sterbenskranker und dann eben ich, an der Türseite. An mir hatten die Pflegekräfte erst einmal nicht viel zu tun, ich konnte unter Mitnahme des fahrbaren Infusionsständers sowie der drei am Bett befestigten Beutel (Darm- und Blasenausscheidungen sowie Magensondenauffangbeutel) aufstehen, mir die Zähne putzen und mich einigermaßen erfolgreich waschen. Da der Darm unterhalb des Ileus ja seit Tagen restlos leer war, erübrigte sich jeglicher Toilettenbesuch. Ich bekam über die Infusion Flüssigkeit und zwei Mal täglich künstliche Ernährung zugeführt, ansonsten diverse Medikamente, darunter immer noch das Antibiotikum gegen die vermutete Bauchfellentzündung.

Am Abend des 19. März erfuhr ich, dass die Operation auf den 21. verschoben worden war. Die Begründung war, übrigens ein ab und zu auftretendes Phänomen in diesem Krankenhaus, von Person zu Person unterschiedlich. Es sei der Terminplan zu voll, sagte mir ein Arzt. Nein, es ginge um die Entzündungswerte in meinem Blutbild, sagte eine Ärztin. Die Stationsschwester erklärte, mein Bauch sei noch zu geschwollen, man hoffe darauf, dass die Entlastungssonde in den zusätzlichen 24 Stunden noch reichlich Stuhl aus dem Körper fördern würde. Womöglich stimmte ja alles oder nichts – aber für den Patienten wäre es schon einfacher, wenn sich die Ärzte und Pflegekräfte bezüglich möglicher Fragen des Patienten vorher auf jeweils eine Auskunft einigen würden.

In mir sah es so aus, dass die (sicherlich völlig normale) Angst vor der Operation Tag und Nacht nicht weichen wollte. Mal trat sie in den Vordergrund, mal konnte ich sie etwas vergessen. Beim Lesen reichte die Konzentration in der Regel nicht für viel mehr als 20 oder 30 Minuten, dann schloss ich wieder die Augen und dachte nach, schlummerte ein wenig, wurde wieder hellwach …

image Wenigstens war im Gegensatz zur Intensivstation in der Nacht mehrstündiger Schlaf möglich, auch tagsüber konnte ich einiges nachholen, da meine Mitpatienten beide ruhige Zeitgenossen waren. Lediglich die beiden am Klinikum stationierten Hubschrauber, deren Anflugweg zum Landeplatz fast direkt an unserem Fenster vorbei führte, verursachten bei ihrer lebensrettenden Tätigkeit einen ziemlichen Lärmpegel.

Am Abend des 20. März kam mein Chirurg zu mir ans Bett, um noch einmal die Operation mit mir durchzusprechen. Er untersuchte meinen Bauch und musste mir dann sichtlich betrübt mitteilen, dass angesichts des doch noch erheblich angeschwollenen Darms ein künstlicher Ausgang für ein paar Monate nicht zu vermeiden sei. Die Entlastungsonde förderte zwar weiter Kot, aber die Menge, die noch im Darm verblieben war, sei doch recht erheblich.

Eine Stunde später erschien dann eine Stoma-Fachkraft, um zwei mögliche Punkte für den künstlichen Darmausgang auf der Haut zu markieren. Im Sitzen und Stehen wurde vermessen, welche Stellen am weitesten von einem Hosengürtel weg lagen, ohne wiederum das Sitzen zu behindern. Die beiden Punkte wurden schließlich auf meinem Bauch gekennzeichnet.

Da lag ich nun, zur Angst vor der Operation kam jetzt die fast 100prozentige Gewissheit, dass das Befürchtete eintreten würde. Der Glaube an einen Gott, der unbedingt das Erbetene tut, wenn man nur a) genug Glauben aufbringt, b) keine Zweifel zulässt, c) fortwährend die Heilung proklamiert und d) noch sonstige Voraussetzungen erfüllt, war mir vor einigen Jahren beim qualvollen und schon nicht mehr menschlich zumutbaren Tod meiner Schwiegermutter abhanden gekommen. Ich hatte göttliches Handeln in meinem Leben erfahren, vor vielen Jahren, daran zweifelte ich nicht, denn was man selbst erleb hat, kann einem ja niemand ausreden. Aber ich hatte ebenso erlebt, dass jedes Flehen, jedes verzweifelte Schreien völlig ohne Antwort blieb, obwohl alle Beteiligten alles „richtig machten“, soweit es die frommen Lehren definierten.

Was ich an diesem Abend vor der Operation noch hatte, war die Hoffnung, dass dieser häufig so ferne, so unbeteiligte Gott vielleicht eine Ausnahme machen würde. Vielleicht. Das konnte ich mir nicht verdienen, nicht erarbeiten, ich wollte ihm auch nicht irgendwelche abenteuerlichen Versprechungen machen, quasi einen Tauschhandel anbieten: Wenn du mir jetzt hilfst, dann werde ich … was auch immer. Nein, dachte ich, wenn er überhaupt hilft, eingreift, wie auch immer das aussehen mag, dann ist das nichts als ein unverdientes Geschenk. Gnade, um das fromme Wort zu wählen.

Also formulierte ich ein aufrichtiges Gebet, ungefähr so habe ich es in Erinnerung: Du oft so ferner, manchmal aber auch naher Gott, an den zu glauben ich nicht lassen kann und will, ich bitte dich, dass mir der künstliche Darmausgang erspart bleibt. Wie das gehen soll, da kann ich dir keine Vorschläge machen, da ist ja sogar mein Chirurg ratlos. Höchsten ein Verschieben der Operation kann ich mir vorstellen. Dass du helfen kannst, daran habe ich keinen Zweifel, ob du es willst, weiß ich nicht. Aber falls ja, dann würde ich mich ungeheuer freuen und dankbar sein. Letztendlich bin ich ja wohl in deinen Händen, nicht in den Händen der Ärzte, die können aber immerhin als deine Helfer fungieren. Also, wie gesagt, falls du mir zuhörst und meine Bitte gewähren willst, sage ich im Voraus danke. Amen.

Sicher kein mustergültiges Gebet aus einem Katechismus, Gebetbuch oder frommen Erbauungswerk. Aber alles andere wäre gelogen gewesen, und, soviel wusste ich, falls Gott zugehört hatte, wäre ihm ein vorgeheucheltes »hach wie stark ist doch mein Vertrauen!« sicher genauso übel aufgestoßen wie mir selbst. Etwas Trost und Ruhe gab mir auch das Wissen, dass nach wie vor zahlreiche Freunde und Bekannte und Verwandte, gläubig und ungläubig, Atheisten und Christen, für Eva und mich auf ihre jeweilige Weise beteten und hofften und die Daumen drückten bis sie flachgequetscht waren. Damit schlief ich dann ein.

Die Entlastungssonde musste alle zwei Stunden gespült werden, Tag und Nacht. Der Beutel, der 2 Liter Inhalt speicherte, war in der Regel zwei Mal täglich ausgewechselt worden. Gegen Mitternacht hörte ich ein ziemlich erschrockenes „ach du liebe Güte, was ist denn hier los!“ und schlug die Augen auf. Die Nachtschwester stand neben meinem Bett und starrte entsetzt auf den Boden. Ich folgte ihrem Blick und sah die Bescherung: Der Beutel war – ganz offensichtlich wegen Überfüllung - geplatzt, ein gewaltiger See von Kot breitete sich auf dem Fußboden aus. Das Krankenzimmer stank ziemlich erbärmlich.

Zu zweit, die andere Nachtschwester kam zur Hilfe, beseitigten die Damen die Schweinerei und brachten einen neuen Auffangbeutel am Schlauch der Sonde an. Im Verlauf der Nacht wurde ich aus dem Halbschlaf noch vier Mal wach, weil der Beutel voll war, jeweils 2 Liter, und ausgewechselt wurde. In den nächtlichen Stunden vor der Operation floss so viel Stuhl ab, wie an mehreren Tagen zuvor nicht. Auch die Magensonde förderte auf einmal bisher nicht dagewesene Mengen Kot, der Auffangbeutel wurde in dieser Nacht zwei mal gewechselt. Ich sah am Morgen das Ergebnis mit eigenen Augen: Der am Vorabend noch deutlich gewölbte, gespannte Bauch war weich und flach und ganz unübersehbar geleert.

Zufall? Schwein gehabt? Ein merkwürdiges medizinisches Phänomen? Eine autosuggestive Reaktion des Körpers?

Man kann selbstverständlich alle möglichen und unmöglichen Erklärungsversuche anstellen. Für mich ist und bleibt die wahrscheinlichste Antwort, bei der ich mein Denken und meinen Verstand am wenigsten verbiegen muss: Der oft so unzugängliche Gott hatte sich zugänglich gezeigt und meine Bitte auf eine ziemlich unappetitliche, aber außerordentlich erfolgreiche Weise erhört. Ganz einfach so, als Geschenk und ohne eine von mir versprochene Gegenleistung.

Wenige Stunden später wurde ich dann zum Operationssaal gebracht.

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