Freitag, 18. Oktober 2013

Von 42 Zentimetern Operationswunde und einer einzigartigen Krankenschwester

Ich hatte ja gestern versprochen, heute (oder morgen) weiter zu berichten, wie es mir nach der Operation an der Leber ergangen ist. Hier nun also die Fortsetzung.

Am Morgen des 9. Oktober, also am fünften postoperativen Tag, kam die Ärztevisite in voller Besetzung ins Krankenhauszimmer, noch bevor die Schwester meinen jungen Zimmergenossen und mich geweckt hatte. Diese eine Krankenschwester unterschied sich so grundlegend von gesamten übrigen Pflegepersonal, das ich kennen gelernt hatte, dass sie mir hier doch ein paar Zeilen extra wert sein muss. Sie hat entweder den falschen Beruf gewählt oder sie ist einfach so – pardon, aber anders kann man es kaum sagen – geistig eingeschränkt, dass man sie eigentlich nicht auf Patienten loslassen dürfte. Doch dazu gleich mehr.

Die Ärzteschaft weckte uns also aus dem Tiefschlaf. Mein Bauch wurde erneut gedrückt, begutachtet, abgehört … und dann kam die endgültige Entscheidung: »Sie können sich anziehen und ihre Tasche packen. Sie dürfen nach Hause.«

So kommen 42 Zentimeter Schnittlänge zusammenLange Wartezeiten gewohnt ging ich davon aus, dass es durchaus noch ein paar Stunden dauern würde, bis der Arztbrief geschrieben und die Formalitäten erledigt sein würden. Ich rief die beste aller Ehefrauen an und gab ihr die gute Nachricht weiter, dass es tatsächlich bei der Entlassung blieb. Wenn ich dann wirklich abholbereit sein, die Papiere fertig und alles unterschrieben sein würde, kündigte ich einen weiteren Anruf an.

Die Stationsärztin kam kurz darauf noch einmal strahlend ins Zimmer und sagte: »Im Gesunden! Alles im Gesunden entfernt! Ich freue mich so für Sie!« »Das heißt, dass nichts zurückgeblieben ist?«, fragte ich nach. »Genau. Keine Reste, keine betroffenen Lymphknoten, keine angrenzenden Organe befallen.« »Da bin ich aber froh!« »Ich auch, für Sie. Ich wünsche gute Erholung, die Klammern kann dann wieder wie letztes Jahr der Hausarzt entfernen. Falls die Narbe stark blutet, falls Sie sich unwohl fühlen, falls irgend etwas Sie auch nur ein wenig beunruhigt, dann kommen Sie sofort zu uns, über die Notaufnahme oder direkt auf die Station. Aber damit rechne ich nicht. Alles Gute!« Sie drückte mir die Hand und verschwand. Zehn Minuten später hatte ich den Arztbrief in der Hand, noch bevor ich mit dem Packen der Tasche fertig war, und 15 Minuten später rief ich dann Eva an, dass sie mich abholen könne – was sie natürlich mit großer Freude tat.

Die Ärzte und das Pflegepersonal, mit denen ich es zu tun hatte, waren samt und sonders freundlich, hilfsbereit, jederzeit zur Stelle, wenn es Not tat und ich hatte immer das Gefühl, gut betreut und bestens versorgt zu sein. Aber. Ach ja, vermutlich muss es in jeder Suppe ein Haar geben, denn alles wäre rundum bestens gewesen, wenn nicht Schwester – na ja, nennen wir sie hier mal Schantall – gewesen wäre.

Schantall war ihren Aufgaben so lange gewachsen, wie alles sich in auswendig gelernte Abläufe fügte. Doch wehe, auch nur eine Kleinigkeit tanzte aus der Lehrbuchreihe. Dann war es aus und vorbei.

Beispiel eins: Schantall bringt mir gegen 11:30 Uhr zwei Beutel Movicol. »Davon nehmen Sie einen morgens und einen abends«, erklärt sie mir. »Kann ich den ersten jetzt noch nehmen? Es ist ja nach 11 Uhr«, frage ich. »Na einen morgens, den anderen abends.« »Ja, schon, das habe ich verstanden. Aber der Morgen ist ja nun vorbei. Kann ich denn die Dosis jetzt noch zu mir nehmen?« »Man nimmt morgens einen, und abends einen. In Wasser aufgelöst.« Ich gab es auf, ließ Schantall den Raum verlassen und bereitete mir um 11:40 den morgendlichen Movicoltrunk.

Beispiel 2: Der Beutel, in den mein Blasenkatheder den Urin leitete, ist gegen 13 Uhr voll. Eindeutig und unmissverständlich voll. Ich läute. Es erscheint ein junger, sehr freundlicher und wirklich immer hilfsbereiter Schülerpraktikant. Ich zeige ihm den Beutel und frage, ob er ihn auswechseln oder entleeren könne. »Das darf ich nicht, aber ich sage es der Schwester.« Ich weiß, wer Dienst hat, nämlich Schantall und bin gespannt. Zwei Minuten später ist der junge Mann wieder da und verkündet etwas kleinlaut: »Sie sagt, der Beutel ist nicht voll.« Ich schaue ihn wohl recht entgeistert an, denn er verteidigt sich: »Ich habe ihr gesagt, dass er voll ist. Aber sie sagt, das kann nicht sein, eben war er noch halb voll.« Schantall war seit mindestens vier Stunden nicht mehr im Zimmer gewesen. »Und nun?«, frage ich. »Ja ich weiß auch nicht, ich bin ja nur Praktikant. Ich darf das nicht.« »Ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf«, beruhige ich, »aber wenn das Ding in den nächsten Minuten platzt oder überläuft – ich muss die Schweinerei dann ja nicht wegputzen.« Er gibt sich einen Ruck und sagt: »Ich komme gleich wieder.« Kurz darauf erscheint die Schwester, die für die andere Hälfte der Station zuständig ist, sieht die zum Bersten gefüllte Bescherung und ruft: »Um Himmels Willen, das kommt Ihnen ja gleich zu den Ohren raus!« Sie schickt den Schüler, sofort einen großen Messbecher holen und lässt dann 2.250 ml Urin aus dem 2.000 ml fassenden Beutel ab. »Schwester Schantall sagt, der Beutel ist nicht voll«, höre ich die Stimme des jungen Mannes, dem es nicht so recht gelingen will, ein Grinsen aus dem Gesicht zu verbannen.

Beispiel 3: Als die Schmerzmittelpumpe zum Rückenmark abgeschaltet ist, bekomme ich vier mal täglich Tabletten und die Zusicherung, jederzeit, maximal allerdings alle 30 Minuten, Tropfen abfordern zu dürfen, falls die Schmerzen zu stark werden. Gegen 10 Uhr klingele ich aus eben diesem Grund und bitte Schantall um die Zwischendosis Tropfen. »Ja, gleich«, sagt sie und verschwindet. Um 10:45 ist immer noch nichts passiert. Um 10:50 quält mich der Schmerz dann so, dass ich wieder die Klingel drücke. »Ich hatte um die Tropfen gebeten«, erinnere ich Schantall. »Ich habe gerade einen Zugang bekommen, ich kann jetzt nicht.« »Dann vielleicht jemand anderer?« »Ich mach das schon.« Weg ist sie wieder. Um 11:20 wütet der Schmerz so, dass ich erneut die Klingel drücke, obwohl ich kaum noch Hoffnung habe. Es erscheint der Praktikant. Ich erkläre ihm, dass ich seit fast eineinhalb Stunden auf Schmerztropfen warte, die ich angeblich jederzeit abfordern kann. Er – das war mir klar – darf sie nicht besorgen und geht die Schwester suchen. Er findet sie nirgends. Er sagt mir kurz Bescheid und sucht noch einmal Zimmer für Zimmer, Schwesternzimmer, Aufenthaltsraum und Küche ab, umsonst. Ratlos kommt er zurück. Ich beschließe, jetzt die Tabletten zu nehmen, die für 14 Uhr vorgesehen sind und dann von der Nachmittagsschicht mehr Hilfe zu erhoffen. – Als gegen 13:30 die Stationsärztin vorbeischaut und fragt, wie ich mit den Schmerzen zurechtkomme, sage ich ihr, obwohl ich Petzen nicht mag, dass es mir unmöglich war, die versprochenen Tropfen abzufordern. Sie runzelt die Stirn, seufzt tief und murmelt: »Ach ja, Schantall hat Dienst … es tut mir sehr leid, Herr Matthia. Ich werde dafür sorgen, dass das nicht noch einmal passiert.« Fortan hat mir dann das Pflegepersonal jeweils zwei oder drei Becherchen auf Vorrat hingestellt, so dass ich schließlich einigermaßen schmerzarm sein konnte.

Ach Schantall! Welcher Teufel hat dich geritten, Krankenschwester zu werden? KFZ-Mechanikerin, Holzfällerin, Gärtnerin … alles, was nicht mit Dienst an Menschen zu tun hat, wäre für dich geeignet. Du könntest auch Straßen teeren oder eine Druckmaschine bedienen, Plakatwände bekleistern oder verstopfte Rohre reinigen. Ach Schantall!

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