Montag, 19. Dezember 2016

Linda

Linda»Jemand sollte Linda aufhalten«, murmelt einer in unser Gruppe am Tresen. »Sie hat eine Pistole in der Tasche und ist auf dem Weg zu ihrem Verlobten.«

Linda ist bereits durch den Ausgang der Kneipe verschwunden. Keiner von uns bewegt sich, obwohl wir wissen, dass wir etwas unternehmen sollten. Wir hätten rechtzeitig den Schnabel halten müssen, aber niemand hatte bemerkt, dass Linda an die Bar gekommen war, daher plauderten wir unbekümmert miteinander. Eigentlich war das Gespräch nur zufällig darauf gekommen, dass Lindas Verlobter mit Jenny geschlafen hatte. Haben sollte. Eventuell. Keiner wusste etwas, alle mutmaßten und ein Wort gab das andere, wie es eben so ist, wenn man an der Bar sitzt und schon ein paar Bierchen intus hat.

Jetzt ist Linda wieder weg.

»Er weiß ja noch nicht einmal, dass sie auf dem Weg zu ihm ist«, sage ich, »sie klopft an die Tür und peng!«

»Was ist nur aus dieser Welt geworden...«, murmelt der ältere Herr mit der braunen Mütze, von dem keiner so recht weiß, wer er ist. Er sitzt so gut wie jeden Abend an der Bar, wie wir alle.

Mein Vater hatte mir immer gesagt, dass zwischen Liebe und Hass nur eine hauchdünne Grenze existieren würde. Ist die erst einmal überschritten, gibt es kein zurück mehr. Vielleicht stehe ich deshalb nicht auf, um Linda zu folgen, wahrscheinlich nehme ich deshalb nicht das Telefon in die Hand, um ihren Verlobten zu warnen.

»Früher«, sagt Jack, »gab es noch Treue. Heute gilt das alles nichts mehr. Man kann gar nichts machen.«

»Das geht nicht gut aus«, mutmaßt Paul. Paul meint immer, er sei eben Realist, wir halten ihn für einen unverbesserlichen Pessimisten. »Ich habe da ein ganz böses Gefühl, der Typ sollte auf der Hut sein, Linda hat eine Knarre und Linda ist stinksauer.«

Ich entgegne: »Warum muss er auch mit Jenny rummachen, er hat ja die Kiste der Pandora selbst geöffnet!«

»Jemand sollte Linda aufhalten«, murmelt wieder einer, ich glaube, es ist Jack. Seine Stimme klingt aber nicht so wie sonst. So, als kämpfte er mit den Tränen. Ausgerechnet unser harter Jack!

Paul meldet sich wieder zu Wort, nachdem er sein Glas in einem Zug geleert hat: »Es sind immer die Frauen, die den Männern zum Verhängnis werden.«

»Simson wegen Delilah, Ahab wegen Jezebel, König David wegen Bathseba«, stimme ich zu. Ich gebe gerne mit meiner Bildung ein bisschen an. Die anderen kennen das nicht anders.

Paul nickt: »Und steckte nicht auch eine Frau dahinter, als Johannes der Täufer geköpft wurde?«

»Linda hat geweint«, sagt die tränenschwangere Stimme. Es ist tatsächlich Jack. »Die ganze Schminke verschmiert, und sie hat sich noch nicht einmal das Gesicht gewaschen, ist einfach losgestürmt. Hat in ihre Handtasche geschaut, die Pistole halb rausgezogen, wieder reingesteckt und weg war sie. Jemand sollte Linda aufhalten!«

Ich ergänze: »Eine Beretta, sie hat eine Beretta.«

Wir nicken. Alle, glaube ich. Jack ist jetzt still. Der Wirt stellt volle Gläser auf den Tresen.

Ich trinke einen großen Schluck.

Sandra quetscht sich zwischen mich und Paul. »Hast du schon was vor?«, fragt sie mich.

»Wie, vorhaben?«

»Na ja, ich würde jetzt nach Hause gehen und bin so alleine.«

»Lass mich noch austrinken, dann gehen wir«, meine ich und lege ihr den Arm um die Schultern.

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P.S.: Richtig, liebe aufmerksame Leser, das ist keine neue Geschichte. Aber ich wollte sie mal wieder in Erinnerung bringen.

P.P.S.: Die Geschichte ist in dem Buch »Neuland« zu finden. Das kann man kaufen: http://amzn.to/2hMSxFl